Politische Verantwortung als Krisengebiet #
Österreichs Bundesverfassung feiert 90. Geburtstag. Ludwig Adamovich, Ex-Präsident des Verfassungsgerichtshofs, spricht über deren Stärken und Schwächen und beklagt den mangelnden Respekt der Politiker.#
Von der Wiener Zeitung (Samstag, 4. September 2010) freundlicherweise zur Verfügung gestellt.
Von
Walter Hämmerle
"Wiener Zeitung": Was würde sich wohl Hans Kelsen, einer der Väter der österreichischen Bundesverfassung, in seinem Grab denken, wenn er die Lobreden der Politiker zum kommenden 90. Jahrestag der österreichischen Bundesverfassung hören könnte?
Ludwig Adamovich: Kelsen war ein Mann, der jegliches Pathos und alles, was auch nur im Entferntesten danach klang, abgelehnt hat. Für ihn, den Rechtspositivisten, werden dadurch nur Ideologien hervorgerufen. Man darf aber bei aller Würdigung seiner Verdienste nicht vergessen, dass die tatsächliche Entscheidungsmacht im Zuge des Verfassungsprozesses bei der Politik lag und hier besonders bei zwei Persönlichkeiten: Otto Bauer auf Seiten der Sozialdemokraten und Ignaz Seipel bei den Christlich-Sozialen. Diese beiden waren die eigentlichen Regisseure beim Verhandlungsprozess um eine neue Verfassung für die Erste Republik.
Würden die Autoren der Bundesverfassung ihr Werk heute überhaupt noch wiedererkennen?
Da muss man unterschieden. In den Grundzügen gab es eigentlich nur zwei einschneidende Eingriffe in die Bundesverfassung: die Novelle 1929 mit der Stärkung der Position des Bundespräsidenten und die Regelungen zum EU-Beitritt 1995. Alles andere ist mehr oder weniger die Fortführung des Bestehenden beziehungsweise ein wildes Gestrüpp von Ausnahmeregelungen, die im Laufe der Zeit, insbesondere in den Jahren der großen Koalition nach 1955 entstanden sind. Ihre Frage lässt sich also nicht einfach mit Ja oder Nein beantworten.
Dann lassen Sie mich so fragen: Hat die Politik die Verfassung in den vergangenen Jahrzehnten ausreichend gut behandelt?
Es ist eine Versuchung für die Politik, dass sie sich auf Projekte verständigt, die einfachgesetzlich zu realisieren wären und sodann schaut, ob sie von der Verfassung gedeckt sind. Wenn nicht, wird ihnen nach Maßgabe der politischen Konstellationen eine verfassungsrechtliche Basis gegeben, manchmal mit der Absicht, die Regelung vor dem Verfassungsgerichtshof abzuschirmen. Das ist natürlich – gelinde gesagt – kein idealer Weg, aber dahinter steht die grundsätzliche Frage, was wir uns denn eigentlich von einer Verfassung erwarten. Österreichs Verfassung war von Anfang an als ein Dokument konzipiert, das lediglich die Spielregeln für die Arbeit der verschiedenen Organe regeln sollte. Inhaltliche Aspekte und die Frage, wo genau die Entscheidungen getroffen werden, rückten dabei in den Hintergrund. Andere, etwa die US-Verfassung, haben hier einen höheren Anspruch.
Zynisch könnte man also sagen: Österreichs Politiker haben Kelsens rein positivistisches Rechtsverständnis radikal in die Praxis umgesetzt.
Ich würde dem zumindest nicht widersprechen.
Aber auch bei Spielregeln ist es wichtig, dass sich jeder darauf verlassen kann, dass sie nicht bei nächstbester Gelegenheit wieder geändert werden. In Österreich ist jedoch genau das und zum Teil massiv geschehen.
Im Laufe der Jahrzehnte ist tatsächlich das verloren gegangen, was man das materiale Verständnis der Bundesverfassung nennt: Dass also nur hinein geschrieben wird, was auch vom Inhalt her wirklich hinein gehört. Allerdings muss man auch dazusagen, dass es für Kelsen gar kein materiales Verfassungsverständnis gab. Für ihn ging es primär um Rechtswege, die auf den verschiedenen Ebenen einzuhalten sind. Wenn dies der Fall ist, ist es für Kelsen in Ordnung.
Wir stehen heute 90 Jahre nach Kelsen. Ist nicht eine der Lehren aus der Geschichte des 20. Jahrhunderts, dass auch das Recht ein Mindestmaß an Pathos braucht?
Das ist Ansichtssache, wir nähern uns damit aber natürlich der Grundfrage, was Recht denn überhaupt ist. In einer rein positivistischen Betrachtung ist Recht das, was in einer bestimmten äußeren Form auftritt und sich auch durchsetzt. Es geht also um das rein Technische, nicht um die Inhalte. Nun muss man aber zugleich auch wissen, dass zur Zeit der Entstehung der Verfassung viele Grundsatzfragen zwischen den beiden großen Parteien umstritten waren. Und weil man sich eben nicht einigen konnte, ist man auch den großen Deklarationen bewusst ausgewichen. Die ideologischen Auseinandersetzungen waren damals ja noch sehr viel größer, dazu kam die Anschlussfrage an Deutschland, die unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg ganz anders gesehen wurde als heute. Der Anschlussgedanke Österreichs an Deutschland war weiß Gott keine Erfindung der Nationalsozialisten, Österreich hat sich 1918 zum Bestandteil der deutschen Republik erklärt, dem hat erst der Staatsvertrag von Saint Germain mit seinem Anschlussverbot einen Strich durch die Rechnung gemacht. Aber natürlich war diese Idee damit noch lange nicht tot, Kelsen selbst hat zum Schluss seines Grundrisses des österreichischen Staatsrechts ein für seine Verhältnisse geradezu flammendes Bekenntnis zum „deutschen Vaterland“ abgegeben. Damals herrschte diesbezüglich also eine vollkommen andere Atmosphäre als heute.
Die Nicht-Umsetzung der Ortstafel-Erkenntnisse des Verfassungsgerichtshofs sind seit Jahren eine Wunde für den Rechtsstaat. Hat die Verfassung hier eine Lücke offen gelassen?
Nein, keineswegs. Das Problem ist, dass es sehr wohl wirksame Mechanismen gäbe, die politische und rechtliche Verantwortlichkeit der obersten Organe geltend zu machen, nur funktioniert das nicht. Das ist zweifellos eine der größten Schwächen des bestehenden Systems. Es gibt die politische Verantwortlichkeit der obersten Organe, also Misstrauensvotum, Entlassung der Bundesregierung durch den Bundespräsidenten; es gibt die rechtliche Verantwortlichkeit in Form der Ministeranklage vor dem Verfassungsgerichtshof, die auch für Mitglieder der Landesregierung gilt. Aber seit die Republik besteht, hat es nur ein einziges Misstrauensvotum gegeben – das war die Abwahl Jörg Haiders als Kärntner Landeshauptmann 1991 – und keine einzige Ministeranklage durch den Nationalrat oder einen Landtag. Das stimmt natürlich nachdenklich, weil doch immer groß von der Verantwortlichkeit der Politik gesprochen wird, nur in der politischen Praxis lässt sich diese nicht durchsetzen.
Warum nicht?
Da müssen Sie schon die politischen Parteien fragen.
Und was besagt dieser Befund über das Verfassungsverständnis der Parteien?
Dass in manchen Situationen die politische Opportunität den Vorrang erhält vor anderen Überlegungen. Das ist eine Tatsache, die man nicht leugnen kann. Es wäre auch keine Alternative, das Misstrauensvotum als Minderheitenrecht zu konstruieren, da würde sich wohl keine Regierung länger als ein paar Monate halten. Ernsthafter sollte man dagegen die Idee diskutieren, das Instrument der Ministeranklage vor dem Verfassungsgerichtshof als Minderheitenrecht einzuführen. Allerdings erachte ich auch hier die Missbrauchsgefahr für zu groß. Die Debatte wäre aber überflüssig, wenn die bestehenden Kontrollmechanismen greifen würden.
Wie würden Sie das Verhältnis der Parteien zur Verfassung charakterisieren?
Ich habe den Eindruck, dass für die meisten Politiker die Verfassung einfach nur ein Werkzeug ist – und für manche nicht einmal das, wie das Kärntner Beispiel mit den Ortstafeln zeigt. Eine empathische, emotionale Beziehung haben unsere Politiker zur Verfassung sicher nicht. In den USA, aber auch in Deutschland ist das zweifellos anders, aber das deutsche Grundgesetz ist ja auch aus Ruinen entstanden . . .
Das war bei uns ja nicht wesentlich anders ...
Darauf will ich hinaus: Als es nach 1945 darum ging, die Verfassung wieder in Kraft zu setzen, sträubten sich die Kommunisten dagegen, weil ihnen die Novelle von 1929 als zu nah am Faschismus erschien.
Dabei hat die Stärkung der Rechte des Bundespräsidenten doch ohnehin zu keinerlei faktischem Machtgewinn des Staatsoberhaupts geführt.
Das stimmt, man hätte aus dieser Novelle zweifellos mehr für das Amt des Bundespräsidenten herausholen können. Hinzu kommt, dass es nur ein einziges Mal zu einer Auflösung des Nationalrats durch den Bundespräsidenten gekommen ist, das war 1930. Eine Notverordnung gab es kein einziges Mal, nicht einmal dann, als tatsächlich Bedarf an diesem Sonderrecht bestanden hätte: Als am 4. März 1933 alle drei Präsidenten des Nationalrats ihren Rücktritt erklärten und die Regierung Dollfuß dies nutzte, um das Parlament auszuschalten. Per Notverordnung des Bundespräsidenten hätte man diese Lücke in der Geschäftsordnung des Nationalrats leicht schließen können, aber die Bundesregierung hat natürlich nicht einmal im Schlaf daran gedacht, eine solche zu beantragen.
In der autoritären Zeit des Ständestaates gab es dann zwar auch einen Bundespräsidenten, aber die Macht lag auch verfassungsrechtlich klar beim Kanzler.
Nach 1945 war die Macht dank der großen Koalition überhaupt ganz woanders. Die Forderung des Alliierten Rates von Anfang des Jahres 1946 nach einer gänzlich neuen Verfassung für Österreich, wurde von der Regierung entschieden abgelehnt, weil man zu dieser Zeit noch vor anderen, wesentlich wichtigeren Problemen stand. Mit den beiden Verstaatlichungsgesetzen und dem Aufbau des Kammerstaats hat man sich dann ohnehin auf einen Ausgleich zwischen den beiden politischen Lagern verständigt. Anläufe für eine grundlegende Verfassungsreform hat es ja viele gegeben, der jüngste war der Österreich-Konvent. Herausgekommen sind zwar eine bemerkenswerte Fülle von guten Ideen und eine Verfassungsnovelle, die 2008 in Kraft getreten ist und eine wesentliche Textbereinigung vorgenommen hat. Das war aber alles weit entfernt von einer grundlegenden Reform. Manche Probleme stellen sich eben wirklich noch fast genau so dar wie im Jahr 1918 – und das, obwohl sich die ideologische Frontstellung erheblich abgeschliffen hat.
Zum Beispiel?
Etwa alles, was mit Eigentum zusammenhängt, mit Familie und Schule, das ist so kontroversiell wie eh und eh. Und vom Thema her natürlich auch der ganze Bereich der Grundrechte. In letzter Zeit stellt sich auch das Verhältnis zwischen Staat und Religionsgemeinschaften in neuer Form: Die Debatte um Kruzifixe in Schulen, die Vollverschleierung von Frauen, das sind doch neue Töne. Und wenn man sich die Missbrauchsdebatte rund um die katholische Kirche anschaut, steckt hier doch auch ein gerüttelt Maß an Anti-Klerikalismus dahinter.
Auf Seiten vieler Bürger gibt es ein schwelendes Unbehagen an der Verfassungsrealität und ihrer Machtverteilung: Die große Macht der Kammern, das in vielen Bereichen vorhandene Veto-Recht der Länder.
Ich verstehe dieses Frustrationspotenzial, aber man muss auch die Frage nach möglichen Alternativen stellen. Die Interessensgegensätze der politischen Lager bestehen nun einmal. Und in irgendeiner Form müssen diese auch ausgetragen werden. Manche rufen hier laut nach mehr direkter Demokratie, auch wenn der Anlass gar nicht passt; andere fordern Gnade vor Recht wie für bestimmte Konstellationen.
Das sind natürlich "Killerphrasen", gegen die man kaum etwas sagen kann, aber es läuft – konsequent zu Ende gedacht – am Ende auf ein Demokratieverständnis hinaus, das sich einer Diktatur der jeweiligen Mehrheit annähert. Da wird es dann aber langsam ungemütlich. Und besonders ungemütlich wird es, wenn versucht wird, partikularistische Fragen auf direktdemokratische Weise zu lösen, dabei wäre gerade hier eine übergeordnete Perspektive dringend notwendig. Ein gutes Beispiel dafür ist das Ping-Pong-Spiel um die Kärntner Ortstafeln zwischen Bund und Land. Aber auch hier stirbt die Hoffnung zuletzt, mit der Wahl von Valentin Inzko zum Vorsitzenden des Rats der Kärntner Slowenen ist hier Bewegung eingekehrt.
Sie haben in den vergangenen Jahrzehnten etliche Generationen von Politikern kommen und gehen gesehen. Wie war deren Wissensstand über die Bundesverfassung?
Unterschiedlich, würde ich sagen. Kanzler Josef Klaus (ÖVP, 1966 bis 1970; Anm.) etwa war die Verfassung enorm wichtig, die meisten anderen hatten eher ein instrumentales Verhältnis zu ihr. Den einen war sie ein unangenehmes Hindernis, anderen ein Klavier, auf dem man wunderbar spielen kann. Ein wirkliches Anliegen war sie außer Klaus aber keinem. Julius Raab hat einmal gesagt 'Wenn der Olah (Franz, SPÖ-Gewerkschaftsführer; Anm.) über die Ringstraße marschiert, dann könnt’s ihr über die Verfassung reden'.
Wie reformbedürftig ist die Verfassung?
Das ist schwer zu sagen. Schon die Frage, was denn zu reformieren wäre, ist abhängig von der jeweiligen ideologischen Position. Tatsache ist, dass die Verfassung unglaublich kompliziert geworden ist, vor allem auf dem Gebiet der Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern. Sich hier auszukennen ist schon ein kleines Kunststück. Die Forderung, diesen Bereich zu vereinfachen, kommt allerdings schon einem Gemeinplatz gleich, nur gibt es hier eben keinen Konsens zwischen SPÖ und ÖVP über das Wie – es ist also wieder die alte Geschichte. Hinzu kommt, dass der gesamte Föderalismus, insbesondere von Seiten der Wirtschaft und von fast allen Medien, grundsätzlich in Frage gestellt wird. Aber dann soll mir einer erklären, wie dann die Landesregierung gewählt werden soll. Und eine Direktwahl des Landeshauptmanns, der sich dann seine Leute selbst aussucht, kann es wohl auch nicht sein. Das Thema Föderalismus ist ja aber nicht nur eine rein juristische Sache, sondern auch Machtfrage und kulturell gewachsene Tradition.
Was wünschen Sie denn der Bundesverfassung zu ihrem 90. Geburtstag – noch ein möglichst langes Leben, eine inhaltliche Rundum-Erneuerung ...?
Man muss – sieht man vom Sonderfall politische Verantwortung ab, das ist ein wirkliches Krisengebiet – zugeben, dass sich die Verfassung im Großen und Ganzen bewährt hat. Mit grundlegenden Reformen kommt man, das hat die politische Erfahrung der letzten Jahrzehnte gezeigt, nicht weiter. Dringend reformiert werden muss allerdings die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern: So, wie es jetzt ist, ist es ganz schlecht. Das wissen zwar alle Betroffenen, aber auch das hilft nicht weiter, weil man wissen müsste, wie man es anders machen könnte – aber auch hier fehlt schlicht der Konsens.
Hüten sollte man sich unbedingt davor, Änderungen aufgrund tagespolitischer Launen zu machen. Vorsicht muss man auch bei den Grundrechten walten lassen. Dass es so etwas wie die Menschenwürde geben soll, ist ja evident. Nur was das im Einzelfall heißt, bleibt umstritten. Der Teufel steckt hier immer im konkreten Einzelfall – und der bleibt ja dann nicht allein.
Das Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG) wurde am 1. Oktober 1920 von einer Konstituierenden Nationalversammlung beschlossen. Die maßgeblichen juristischen Vorarbeiten kamen vom Rechtsphilosophen und Staatsrechtler Hans Kelsen (1881 bis 1973), dem Christlichsozialen Politiker Michael Mayr (1864 bis 1922) und dem damaligen Staatskanzler Karl Renner (1870 bis 1950).
Allerdings verhinderten die ideologischen Gräben jener Zeit in zahlreichen Punkten eine Einigung, was sich etwa bei den Grundrechten und der Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern besonders deutlich zeigt. Um das Verfassungswerk nicht zu gefährden, wurden daher zahlreiche Gesetze aus der Monarchie übernommen, etwa das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger von1867. Mit der Verfassungsnovelle 1929 kam es zu einer Machtverschiebung vom Parlament zum Bundespräsidenten. Dieser wurde mit weitreichenden Kompetenzen ausgestattet und durch Direktwahl aufgewertet. Am 1. Juli 1934 trat die Bundesverfassung außer Kraft und wurde durch die verfassungswidrig erlassene Maiverfassung des Dollfuß-Regimes ersetzt. Noch vor Ende des Zweiten Weltkrieges wurde am 27. April 1945 von SPÖ, ÖVP und KPÖ eine Unabhängigkeitserklärung veröffentlicht. Nach dieser sollte die Republik Österreich im Sinne der Verfassung von 1920 wiederhergestellt werden. Am 1. Mai 1945 wurde das Verfassungs-Überleitungsgesetz beschlossen, das das B-VG und weitere Gesetze in der Fassung von vor dem Ständestaat wieder in Kraft setzte.
Seitdem wurde das B-VG knapp hundert Mal novelliert und ist damit wohl die am häufigsten novellierte Verfassung der Welt.