Verfassung#
Aphorismen und Assoziationen #
Von
Manfried Welan
veröffentlicht im Jan Sramek Verlag, Wien 2011, EUR 12,50
Magistris discipulisque rei publicae
» Die geschriebene Verfassung repräsentiert den höchsten Triumph des juristischen Erfindungsgeistes, weil mit ihr versucht wird, die politische Struktur in eine feste Form zu gießen und die Möglichkeiten der Gesetzgebung zu begrenzen. Eine solche Verfassung trennt und verteilt nicht nur die Staatsgewalten, sondern versucht auch durch die Festlegung von Grundrechten gewisse Bezirke abzustecken, die dem Arm der Regierung und sogar dem Arm des Gesetzgebers entzogen werden.« (William Seagle, Weltgeschichte des Rechts)
Vorwort #
In der Gymnasialzeit lernte ich die Verfassung der Vereinigten Staaten kennen und damit die » fixed and limited constitution «, in welcher der alte Gedanke der politia mixta fortwirkt.
Die österreichische Verfassung lernte ich erst einige Jahre später im Jus-Studium an der Universität Wien kennen. Adolf Julius Merkl, Walter Antoniolli, Günther Winkler und René Marcic waren sehr unterschiedliche Lehrer. Jedem verdanke ich viel.
Die Verfassung faszinierte mich, vor allem ihr Aufbau, Stil, der Stufenbau der Rechtsordnung und die Garantien der Verfassung und Verfaltung. Als junger Jurist war ich von der Unwissenheit der meisten Menschen und vom Desinteresse an der Verfassung enttäuscht. 1961 schrieb ich in einem Wiener Bezirksblatt » eine unbekannte Vierzigjährige «. Gemeint war unsere Bundesverfassung. Heute ist sie über 90 Jahre alt, und eine der ältesten Verfassungen der Welt. Aber sie ist noch immer für viele eine Unbekannte. Sie wurde nie eine » weltliche Bibel «, vielleicht weil hier ja auch die geistliche Bibel nie ein Hausbuch war.
Wenn man sich über 50 Jahre mit der Verfassung beschäftigt hat, so hat man so seine Erfahrungen. Man hat nicht nur gerade, sondern auch schräge Gedanken. In diesem Buch sind beide enthalten. Es ist nicht abgeschlossen, sondern ein » work in progress « und ein » work in process «. Ich hoffe, dass es in diesem Sinn Anregungen bietet. Wien, Pfingsten 2011. Manfried Welan
Inhaltsverzeichnis #
I. Was ist eine Verfassung, was soll sie, was kann sie ?
II. Was ist unsere Verfassung ?
III. Österreich ist eine demokratische Republik.
IV. Österreich ist ein Bundesstaat
V. Österreich ist ein Rechtsstaat
VI. Das österreichische Regierungssystem oder politia mixta
VII. Verfassung und Realverfassung
VIII. Erste – Zweite – Dritte – Vierte – Fünfte … und die neue Republik
I. Was ist eine Verfassung, was soll sie, was kann sie?#
Verfassung ist die meist in einer Urkunde festgelegte Grundordnung eines Gemeinwesens.[1]
Sie ist Politikspielregel und Rechtserzeugungsregel: Sie regelt, wer wie Recht erzeugt, wer wie regiert, wer wie kontrolliert. »Wer« heißt »Organe«, »wie« heißt »Verfahren«.
Die Verfassung soll die Staatsmacht legitimieren und limitieren. Sie soll den rechten Gebrauch der Macht gewährleisten und den Missbrauch verhindern.
Dazu dienen Menschenrechte, Grund- und Freiheitsrechte und die Gewaltenteilung[2], also die »Freiheit vom Staat« und die »Freiheit im Staat«.
Die Beteiligung aller an der Staatswillensbildung in Formen der repräsentativen und direkten Demokratie soll gutes Regieren und Gerechtigkeit für alle gewährleisten.
Die Verfassung kann aber diese Ziele und damit ihren Sinn nur erfüllen, wenn die Gesellschaft mit ihr im Großen und Ganzen übereinstimmt.
Der Zusammenhang von Verfassung und Gesellschaft besteht aber nicht nur in diesem »Zusammenklang«. Die Verfassung ist ein Text, den der gesellschaftliche Kontext der Vergangenheit für den Kontext der Zukunft konzipiert und produziert hat und den die Gegenwart interpretiert und konkretisiert. So ist die Welt von gestern mit ihrem Text ein Produktionsfaktor der Gegenwart und eine ordnungspolitische Eingabe für die Zukunft.
Daher ist die Verfassung keine Statistik oder Datenbank und auch kein Grundbuch oder Fahrplan der Macht. Ihre Lektüre vermittelt ein Wissen über die formellen Regeln, aber kein Wissen über die faktischen Machtverhältnisse. Daher ist der Text der Verfassung immer mit dem Kontext der Gesellschaft zusammenzulesen Theater ist ein Spiel. Politik ist ein Spiel mit ernsten Folgen. Was Rollen am Theater, sind Zuständigkeiten in der Politik. Die von Gestern stammenden politischen Institutionen halten für die sie besetzenden Gruppen und Individuen von Heute Rollen bereit, die sie für Morgen spielen sollen!
Heute? Morgen?
II. Was ist unsere Verfassung?#
Unsere österreichische Verfassung ist das 1920 erlassene und seitdem über hundert Male novellierte Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG).
Daneben gibt es die Verfassungen der neun Bundesländer.
Daneben gibt es aber auch aus alten Zeiten übernommene Verfassungsgesetze (z.B. das Staatsgrundgesetz vom 21.12.1867 über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger für die im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder) , aber auch jüngere Verfassungsgesetze wie das Neutralitätsverfassungsgesetz 1955, Staatsverträge im Verfassungsrang wie die Europäische Menschenrechtskonvention 1950 und ihre Zusatzprotokolle (EMRK), und Verfassungsbestimmungen in Staatsverträgen (z.B. im Staatsvertrag von Belvedere 1955 und im Staatsvertrag von St. Germain 1919), und einfachen Bundesgesetzen.
Wenn sich eine Zweidrittelmehrheit im Nationalrat findet, kann Verfassungsrecht beschlossen werden. Inhalt kann alles Mögliche sein. Es muss nicht in den Verfassungstext hinein. Es muss nur als Verfassungsrecht bezeichnet sein. Die Folge davon waren Hunderte von Verfassungsregelungen außerhalb der Verfassung.
Selbst » Schweinefleisch sonnte sich im Verfassungsrang «(René Marcic 1919 – 1971) und die Regelung war damit lange vor Aufhebung durch den Verfassungsgerichtshof geschützt.
Die Verfassung vertextet die Politik. Der Verfassungstext wurde hundert Mal verändert. Oh wie dynamisch war die Politik!
Politischer Inkrementalismus und opportunistische Verfassungsreformen der kleinen Schritte in Permanenz haben das Verfassungsrecht in der Zweiten Republik zu einer flüssigen Materie und zu einem komplizierten Flickwerk gemacht. Es ist trotz Bereinigung von Unübersichtlichkeit und Zersplitterung geprägt.
»Alle Politik hebt beim Menschen an; sie wird von ihm, für ihn und oftmals gegen ihn betrieben. Um über Politik sprechen zu können, muss man eine Vorstellung vom Men-schen haben; sonst spricht man über eine leere Mechanik.« Diese Feststellung Hermann Brochs (1886 – 1951) führt zur Frage nach dem Menschenbild unserer Verfassung.
Das Menschenbild unserer Verfassung ? Eine Mischung aus Optimismus und Skeptizismus. Optimistisch ist das Ja zur politischen Freiheit. Skeptisch ist das Ja zu vielen Kontrollen.
Vertrauen ist gut – daher Demokratie und Mehrheitsherrschaft;
Misstrauen ist besser, daher Freiheits-, Minderheits- und Minderheitenrechte; daher Bindung an Verfassung und Gesetz;
Kontrolle ist am besten; daher viele Kontrollen.
Österreich ist ein Mutterland der Rechtskontrolle und ein Musterland der Inter- und Intraorgankontrollen.
Der Rechnungshof wird 2011 250 Jahre alt.
Drei Hauptstücke der Verfassung dienen der Kontrolle und die übrigen dienen ihr auch. Irren und Willkür sind menschlich; Politik und Verwaltung sind sehr menschlich. Deshalb enthält die Verfassung viele Kontrollen.
Verfassung war einmal ein magisches Wort: »Konstitution«! Die Revolution 1848 erwartete von ihr Freiheit. Es kam der Radetzkymarsch. Später, viel später kam die Freiheit. Der Radetzkymarsch blieb. Jedes Jahr im Neujahrskonzert.
Die erste österreichische Verfassung – die »Pillersdorffsche« – war oktroyiert und eine Totgeburt. Kein gutes Omen.
Die wirklich erste Verfassung – hätte die von Kremsier 1848/49 sein können. Aber Kaiser Franz Joseph löste das erste österreichische Parlament auf. Wieder wurde eine Verfassung oktroyiert. Aber der Kremsierer Entwurf blieb bis heute ein Vorbild.
Ohne Revolution keine Konstitution? Die Revolution 1848 ist die Vergessene, die von 1918 der Umbruch, und die Konstitution 1920 ist die Unbekannte.
Die heute geltende Verfassung ist ein Werk der Welt von gestern. Sie ist ein politisches Museum und voll von Mahn- und Denkmälern.[3]
Die Geschichte unserer Verfassung seit 1848 ist eine Geschichte unserer Freiheit. Dieser Weg war mit militärischen und außenpolitischen Niederlagen gepflastert.
Aber er war ein Weg ins Freie. Das ist auch der Sinn unserer Geschichte.[4]
Die Verfassungsentwicklung seit der Revolution 1848 ist ein Laboratorium der Staatsrechtslehre: Absolutismus und Konstitutionalismus, Monarchie und Republik, Großstaat und Kleinstaat, Demokratie und Diktatur, Liberalismus und Totalitarismus, Einheitsstaat und Bundesstaat, Zentralismus und Föderalismus, Polizeistaat und Rechtsstaat, Nationalitätenstaat und Nationalstaat, Auflösung und Integration, Anschluss und Besetzung, Befreiung und Besatzung... Austria docet (Österreich lehrt).
Wir kommen von einem großen Reiche her. Aber schon im 19. Jahrhundert setzte ein Schrumpfungsprozess ein. 1918 wurde Österreich vom einst zweitgrößten Staat nach Russland zu einem der kleinsten Staaten Europas.
War das alte Österreich ein Völkerkerker ? Ein Volkskerker ? Österreich war seit 1867 ein Rechtsstaat mit großer Rechtssicherheit. Aber eine Demokratie war es nicht.
Hatte das alte Österreich eine Staatssprache ? Nach dem Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger 1867 waren alle Volksstämme gleichberechtigt und jeder Volksstamm hatte ein gleiches Recht auf Wahrung seiner Nationalität und Sprache. Erst 1920 führte die Verfassung die deutsche Sprache als Staatssprache ein. Unbeschadet der den sprachlichen Minderheiten eingeräumten Rechte. Heute sind das die Volksgruppenrechte.[5]
Kleinstaat Keinstaat ? Das kleine Österreich wurde ein größerer Staat als das große Österreich es je war. Das machten unsere Sozialismen. Dabei könnte ein Kleinstaat mehr Frei-und Volksstaat sein als ein großer.
1918 wurden wir ein Volk ohne Staat. Darauf wurde von der Provisorischen Nationalversammlung beschlossen, » Deutsch – Österreich «, » demokratische Republik « und » Bestandteil der Deutschen Republik « zu sein. Das war Revolution, d.h. Bruch der Rechtskontinuität.
1919 setzten die Siegermächte den Namen Österreich und das Anschlussverbot an Deutschland durch. So wurden wir die »Republik Österreich« und »ein Staat, den keiner wollte«. Die erste Verfassung der Ersten Republik 1918 erklärte den Anschluss an Deutschland, die erste Verfassung der Zweiten Republik 1945 erklärte die Unabhängigkeit von Deutschland. Die schönste Bestimmung der Rechtsordnung: » Jeder Mensch hat angeborene, schon durch die Vernunft einleuchtende Rechte ...« steht nicht in der Verfassung 1920, sondern im ABGB 1811! Das ist das österreichische Urrecht und die Zentralnorm der Rechtsordnung. Sie gehört in jede Schul- und Amtsstube.[6]
Diesem Urrecht zum Trotz blieb die Verfassung ohne Grundrechtskatalog und das bis zum heutigen Tag.
Sie war von Anfang an ein Torso und wurde im Laufe der Zeit dazu noch eine Ruine.
Ein sacrilegium intellectus? Ein Paradoxon Austriacum: Weil sich die beiden » sozialen « Großparteien Sozialdemokraten und Christlichsoziale nicht auf Grundrechte einigen konnten, blieb es beim liberalen Grundrechtskatalog der Monarchie; den man durch einfache Gesetze im öffentlichen Interesse manipulieren kann.
Ein Spruch aus der Monarchie: Ich glaube nur an das Staatsgrundgesetz. Einen solchen Glauben habe ich in der Republik nie gefunden. Patriotismus schon, aber keinen Verfassungspatriotismus. Grundherren waren Jahrhunderte an der Macht. Wie lange sind Grundrechte an der Macht? Seit 1867.[7]
Unsere Verfassung ist ein Vertrag der Parteien. Sie ist ein Werk der großen Lager und sie wurde das, was sie daraus machten.
Ein berühmtes Wort von Ferdinand Lassalle (1825 – 1864): »Verfassungsfragen sind Machtfragen«. D. h. Verfassungsfragen sind Parteifragen. Es gibt auch andere Machtträger, aber sie müssen durch und über die Parteien operieren.
Die Verfassung wurde » eine Art Autobiografie der Macht « genannt. Unsere Verfassung ist die Autobiografie von Rot und Schwarz. Dabei setzten sich die Roten mehr inhaltlich, die Schwarzen mehr der Organisation nach durch. Hans Kelsen ( 1881 – 1973 ) gab ihr Form und Format.
Es gab viele formale Kompromisse, aber zu wenig Fundamentalkonsens.[8]
Nicht die substanziellen, sondern die funktionellen Kompromisse in Form von Lücken, Provisorien, Junktimierungen, Rezeptionen, Promessen machten eine Unvollendete: die Verfassung 1920.
Das Verfassungsrecht durchzieht ein rot-schwarzer Faden des Vertrauens und des Misstrauens. Unter den politischen Institutionen finden sich daher manche » Kompro- Missgeburten «, z.B. der Bundesrat oder der...?
Die Parteien wurden von der Verfassung nicht gesetzt, sondern vorausgesetzt.
Obwohl die Verfassung von Parteien für Parteien geschaffen wurde, ignorierte sie lange die Parteien. Diese Parteienprüderie hatte sie von der Monarchie.
Aber als wir keine Parteien mehr hatten, hatten wir keine Freiheit mehr.
Die Institutionalisierung und Konstitutionalisierung der Parteien erfolgte erst wegen ihrer Finanzierung 1975. Das österreichische Parteiengesetz ist deshalb das liberalste der Welt.[9]
Im klassischen Stil eines parlamentarischen Rechtsstaates gebaut, war das B-VG 1920 eine systematische und konsequente Konzeption in der Kombination von Bundesstaat, Proporzwahlrecht, Wahl der Regierung, des Staatsoberhauptes und des Verfassungsgerichtshofes durch das Parlament, Bindung der Gesetzgebung an die Verfassung, der Verwaltung an das Gesetz, Verfassungsgerichtsbarkeit mit Nor-menkontrolle, Verwaltungsgerichtsbarkeit,...
Föderalismus und Parlamentarismus gingen unter rechtsstaatlichen Garantien Kombinationen ein.
Das B-VG 1920 war konsequent. Aber niemand sah in ihm eine »weltliche Bibel«, ein »Zauberpergament« oder einen »Katechismus des jungen Österreichs« ! »Verfassungsfeste« gab es keine.
Adolf Julius Merkl (1890 – 1970) sah in ihm das » verhältnismäßig vollkommenste, juristisch und vielleicht auch stilistisch feinst gearbeitete Werk unter den modernen Verfassungskodifikationen.«
Durch die Verfassungsnovelle 1929 wurde die Konzeption 1920 bis zur Inkonsequenz geändert: Durch Stärkung des Bundes auf Kosten der Länder, durch Stärkung der Mehrheit auf Kosten der Minderheit, durch Stärkung der Exekutive auf Kosten der Legislative, und vor allem durch die Volkswahl und Stärkung des Bundespräsidenten. Und das soll keine Gesamtänderung sein?
Durch die Novelle 1929 wurde die Weimarer Verfassung auf österreichisch übernommen.[10]
Wer wandte sich gegen die Aufhebung der demokratischen Verfassung in den Jahren 1933/1934?
Wer protestierte, wer demonstrierte, wer streikte, wer leistete Widerstand? Wer leistete1938 Widerstand gegen die Besetzung Österreichs, gegen den Anschluss?
Wer diskutiert heute noch über die Frage Annexion oder Okkupation?
1945 wurden wir durch eine Besetzung von einer Besetzung befreit. Der Diktatur Hitlerdeutschlands und Österreichs Auslöschung folgte eine Militärdiktatur oder sagen wir ein Kollektiv-Protektorat und Österreichs Wiedergeburt.
Die erste Verfassung des neuen Österreich, die Unabhängigkeitserklärung, war als Rückkehr zum Geist der Verfassung 1920 konzipiert. Diese Rückkehr wurde als Heimkehr in die Fassung 1929 inszeniert.[11]
Viel wurde am und im Verfassungsrecht geändert. Aber das Politischste des Politikrechts, vom Wahlrecht bis zum Bundespräsidenten, nämlich das Regierungssystem, wurde nicht verändert.[12]
Die Verfassung enthält weniger Schranken für die Gesellschaft als Eingangspforten. Das sind v.a. die Regierung, die Wahlen, die Gesetzgebung, aber auch die Verwaltung und die Gerichtsbarkeit, besonders die Verfassungsgerichtsbarkeit.
Die Verfassung ist eine »Superverfassung«! Deshalb kommt es so auf die »Subverfassungen« an: Die Familien-, Schul-, Universitäts-, Medien-, Eigentums-, Betriebs-, Wirtschaftsverfassung...
Warum ist die Bundesverfassung so umfangreich ? Sie ist auch Landesverfassung und Gemeindeverfassung. Sie ist nicht nur Verfassung für die Gesetzgebung, sondern auch Verfassung für die Gerichtsbarkeit und vor allem Verfassung der Verwaltung und für die Verwaltung, kurz unsere Verfassung ist eine Verwaltungsverfassung.
Warum schaut die Verfassung wie Verwaltungsrecht aus ? Weil sie die Vertextung des Staates von Verwaltungsjuristen für Verwaltungsjuristen ist.
Sie wurde zur bürokratischen Partitur der oligarchischen Partikratie.
Die Verfassung enthält viel vom organisierten, aber wenig vom organischen Leben. Deshalb braucht die Natur eine eigene Verfassung.[13]
Eine Utopie: Die Verfassung eines Staates sollte so werden, dass sie die Verfassung des Lebens nachhaltig fördert.
Wir haben viel aus der Geschichte gelernt.
Im Laufe der Zeit wurde die Verfassung ein Konfektionsauszug, der von allen Parteien getragen wird.
Für das Volk ist sie wie manche moderne Kunstwerke … Sie ist unbekannt und unverständlich. Aber sie funktioniert.[14]
Der Verfassungskonvent ist gescheitert. Oder nicht ? Wir sind gescheiter geworden.
Die Welt ist ein Dorf geworden. Österreich ist ein Dorf geblieben. Wir kommen von einem großen Reich her und sind eine Provinz geworden. Nein, wir sind provinziell geblieben, hinternational.
Small is beautiful.
Manche sprechen von »Verzwergung.«
Unsere Verfassung sagt nicht, wohin die Reise geht. Sie regelt mehr das Spiel der Politik als Werte der Politik.
Staatsziele werden nicht so eingehalten, wie man es erwartet.
III. Österreich ist eine demokratische Republik. Ihr Recht geht vom Volk aus.#
Österreich war einmal ein oktroyierter Staatsname, heute ist es Heimat. Österreich ist eine demokratische Republik. Darin liegt Hellas und Rom, demos und res republica.
In der Demokratie ist das Volk das Subjekt. In der Demoskopie und in der Demagogie ist es das Objekt. Demos, Ethnos, Ochlos.
Demokratie und Republik: Auch in unserer Verfassung streitet Rousseau mit Montesquieu weiter.
Republik ist das Hauptwort, demokratisch das Eigenschaftswort.[15]
Wenn man den Kaiser weglässt, ist das schon eine Republik? Ja, denn fast alle Bücher definieren Republik als Nichtmonarchie.
Republik als Gemeinschaft von Freien und Gleichen zum Ziel des Gemeinwohls ist mehr und anderes.
Republikanisch ist die umfassende Gewaltenteilung mit checks und balances und das bonum commune, das Gemeinwohl, als Ziel des Gemeinwesens, Zugänglichkeit aller Ämter für alle, Begrenzung der Ämter nach Gegenstand, Raum und Zeit durch Recht, Verantwortlichkeit und Abberufbarkeit aller Amtsträger.
Republikanisch ist es, Freisinn und Gemeinsinn in sich zu vereinigen, sich als Teil und Träger des Ganzen zu verstehen. Aber wer weiß das ? Und wer kann das?
Die Ämter und der Staat als Ämterordnung sind keine res privata, sondern res publica. Der einzelne ist pars rei publicae, Teil und Träger des Ganzen, das die gemeinsame Sache aller und jedes Menschen ist.
Republik ist eine Rechtsgemeinschaft von Freien und Gleichen zum Ziele des Gemeinwohls. Aber das ist noch ein Ziel, aufs Innigste zu wünschen.
Wir sind eine unvollendete Republik. Sie ist zwar der Gegensatz zur Monarchie, aber in vielem ihr Fortsatz.
» Jeder Mensch hat angeborene, schon durch die Vernunft einleuchtende Rechte … « Gehört dazu nicht auch das Wahlrecht, die Mitwirkung an der Rechtserzeugung und Staatswillensbildung?
Art. 1 B-VG, den manche nicht wollten und andere überschätzen, macht Österreich nicht zur Demokratie. Die Demokratie ergibt sich aus den Regelungen der übrigen Verfassung und aus der Wirklichkeit. Aber Art. 1 ist eine ständige politische Herausforderung zu mehr und besserer Republik, zu mehr und besserer Demokratie.
Demokratisierung der Demokratie, Republikanisierung der Republik – was ist wichtiger?
Die Staats- und Rechtsform Demokratie ist zu wenig, Demokratie ist vor allem Lebensform. Aber das steht nicht in der Verfassung. Das muss man lernen.
Demokratie beruht auf Vertrauen und Verantwortung, auf Toleranz und Humanität.
»Demokratie, Humanität, Solidarität, Friede und Gerechtigkeit sowie Offenheit und Toleranz ge- genüber den Menschen sind Grundwerte der Schule...« (Art 14 [5 a ]). Was soll man dazu sagen?
Die direkte Demokratie wird von der Verfassung leider nicht mütterlich, sondern stiefmütterlich behandelt. Sie wird von der repräsentativen Demokratie bevormundet.
Sie ist aber etwas Wunderbares, wenn die richtigen Fragen von den richtigen Leuten zum richtigen Zeitpunkt gestellt werden.
Die direkte Demokratie gibt es wie die repräsentative auf allen Ebenen. Diese wird regelmäßig durch Wahlen realisiert, jene geradezu als Ausnahme.
Das erste Volksbegehren auf Bundesebene fand erst 1964 statt, die erste Volksabstimmung erst 1978 und die erste Volksbefragung...?
Die republikanische Verfassung enthält viele Stellen, die auf die monarchischen Verfassungen zurückzuführen sind. Wie ein Wasserzeichen schimmert der Kaiser durch den Text.
Ein » Kaiserkomplex « bestimmte die Diskussion um das Staatsoberhaupt zu Beginn der Republik. Deshalb ist der Bundespräsident so voller Widersprüche und eine inkonsequente Konzeption.
Die Republik war neu. Die Abschaffung der Habsburger und des Adels u.a.m. sollten ihrer Sicherung dienen. Aber die Erziehung zur Republik ist bis heute nicht gesichert.
Die Architektur der Verfassung und des Staatsrechtes setzt das republikanische Verhalten voraus. Aber die Gebäude, in denen der Staat mit seinen Amtsträgern sitzt, sind monarchisch und wirken monarchisierend. Und ihre Titel auch.
Die Republik hat es nie zu Repräsentationsbauten gebracht. Sie ist keine repräsentative Republik.
Die neuen Machthaber – die Parteien – haben sich 1918 und die folgenden Jahre nie durch eine Volksabstimmung die direkte Legitimation vom Volk und durch das Volk geholt. Sie haben sich der Technik des Einsiedlerkrebses bedient und die politischen Institutionen und Gebäude besetzt.
Die politischen Parteien haben als faktische Machtnachfolger den neuen Staat » gemacht «. Die normative Kraft des Faktischen hat gewirkt.
Ein Argument für Freiheit und Demokratie: Unwissenheit. Wir wissen wenig, was dem Menschen frommt, deshalb hat er Freiheitsrechte; er muss doch am besten wissen, was ihm gut tut.
Wir wissen wenig über das Gemeinwohl.
Mehrheiten sind Wege zum Gemeinwohl. Deshalb dienen Wahlen als Wettbewerb und daher Entdeckungsverfahren. Aber Demokratie ist nicht einfach Herrschaft der Mehrheit. Demokratie bedeutet auch Rechte der Minderheiten. Daher sind ihre Wege mit Kompromissen gepflastert. Dialog und Kompromisssuche stehen nicht in der Verfassung, gehören aber dazu. Die Verfassung enthält Ordnungen des Wettbewerbes und Wettkampfes um die Staatsmacht, vor allem als Wahlen und Abstimmungen. Die Wahlen zum Nationalrat sind ein Wettstreit, den das Volk als Preisrichter entscheidet und aus dem der Bundespräsident Konsequenzen zieht: Der Siegespreis ist die Regierung.
»Ihr Recht geht vom Volk aus«. Aber was ist »ihr Recht«? Jedenfalls nicht Macht, wie falsch zitiert wird, und nicht alles Recht oder das Recht, wie ebenfalls falsch zitiert wird, geht vom Volk aus
»Ihr Recht« ist nur das positive Recht der demokratischen Republik, nicht göttliches Recht, Naturrecht oder Seinsrecht.
Und » Volk « sind nicht alle, die unserer Rechtsordnung angehören und ihr unterworfen sind.
Und » Volk « ist auch keine durch Abstammung oder sonstige außerrechtliche Elemente geeinte Nation, sondern laut Verfassungsgerichtshof sind das die Staatsbürgerinnen und Staatsbürger.
»Ihr Recht« macht »Volk«.
»Nation« kommt in der Verfassung nicht vor. Aber nationales Recht macht Staatsbürgerinnen und Staatsbürger. Gehören denn die anderen Menschen nicht auch zum Volk?[16]
Politisch sind wir keine Bürgergesellschaft, sondern eine Staatsbürgergesellschaft.
Heute ist der größte Mangel der Republik der Mangel an Republik.
Die Zivilgesellschaft ist zersplittert. Ihr fehlt ein republikanisches Gemeinschaftsgefühl.
Ihr Recht geht vom Volk aus. Ihr Recht geht auch zum Volk hin. Dazwischen? Parteien, Verbände, Ämter, viele Ämter. Ihr Recht geht am Volk aus.
Österreich ist eine Republik der Mandarine gewesen. Ist es eine Republik der Manager geworden?
Österreich wählt. Sein Recht geht vom Volk aus, aber es kehrt immer wieder zum Volk zurück. Wann wird das Volk das verstehen?
IV. Österreich ist ein Bundesstaat.#
Der Bundesstaat wird gebildet aus den selbständigen Ländern: Burgenland, Kärnten, Niederösterreich, Oberösterreich, Salzburg, Steiermark, Tirol, Vorarlberg, Wien (Art.2 B-VG)
Österreich lebt in seinen Ländern und ruht in seinen Gemeinden.
Die Länder sind alt, der Bundesstaat ist jung.
Föderalismus kommt von foedus, Vertrag. Verträge kommen von vertragen und ertragen. Der Bund entstand aus Verträgen.
Verfassung entsteht aus Verträgen, besteht aus Verträgen, lässt Verträge entstehen und bestehen.
Verfassungsautonomie: Früher ähnelten die Verfassungen der Länder wie ein Ei dem anderen, jetzt wie ein Osterei dem anderen.
Druckfehler enthalten manchmal ein Stück Wahrheit: Deshalb liest man so oft »Förderalismus«. Sumpfventionen statt Subventionen liest man allerdings nicht. Die Gliederung in Gebietskörperschaften und in Berufskörperschaften (Kammern) – das ist Gewaltenteilung auf österreichisch – Staatspluralismus.
Durch den Beitritt zur EU wurde und wird der Bundesstaat Österreich immer mehr zum Bundesland mit Selbstverwaltungskörpern, ohne dass die EU zum Bundestaat geworden wäre.
Jedes Land gliedert sich in Gemeinden. Die Gemeinde ist Gebietskörperschaft mit dem Recht auf Selbstverwaltung und zugleich Verwaltungssprengel. Jedes Grundstück muss zu einer Gemeinde gehören.
Die Gemeinden stammen aus 1849, »Grundfeste des freien Staates ist die freie Gemeinde«, – die Bezirke von Maria Theresia, die Bezirkshauptmannschaften aus 1868, die Länder aus dem Mittelalter. Diese Geschichte kann man nicht abschaffen!
Zuerst wird man in der Heimatgemeinde sozialisiert, dann im Heimatland, dann in Österreich und dann in Europa. Und wo und wann kommt man auf die Welt?
Es gab einmal ein Heimatrecht. Gibt es ein Recht auf Heimat?
Die Obrigkeit beginnt als demokratische Selbstverwaltung in den rund 2400 Gemeinden und setzt sich als bürokratische Staatsverwaltung in den rund 80 Bezirkshauptmannschaften fort. Nach diesen Ämtern des Landes kommen das Amt der Landesregierung, Landeshauptmann und Landesregierung. Und dann kommt der Bund. Und dann kommt die EU. Und dann kommt die Welt. Wie viele Ebenen, so viele Identitäten!
Sind wir noch ein Staat? Sind wir schon ein Staat?
Staat und staatlich meint Bund und Länder. Und was ist die EU?
Werden wir immer weniger Staat, ohne dass die EU immer mehr Staat wird?
Gemeinden – Länder – Bund – EU – das ist Gewaltenteilung: Je höher die Ebene und je größer der Raum, desto weniger Macht steht der Spitze zu.
Bürgermeister – Landeshauptmann – Bundeskanzler, Bundespräsident, EU-Organe … in dieser Reihenfolge nimmt Macht je Amtsträger ab. Der österreichische Staat war und ist ein Parteienstaat. Daher ist der Bundesstaat ein Parteienbundesstaat und die Länderkammer ein Parteienbundesrat. Und der Bundespräsident?
»Die Kompetenzverteilung ist das Herzstück des Bundesstaates«. Regierungen haben jedenfalls die Reform der Kompetenzverteilung als Herzstück ihres Reformprogramms bezeichnet.
Die Verteilung der Zuständigkeiten zwischen Bund und Ländern folgt mehr einer Ministerialordnung als einer Länderordnung.[17]
Das geht auf eine Initiative Karl Renners zurück. Immerhin sind altes Grün (Landwirtschaft) und neues Grün (Naturschutz) Sache der Länder.
Die Zuständigkeitsverteilung ist unitarisch, aber kompliziert, kasuistisch, aber zentralistisch, insgesamt unübersichtlich. Durch den Beitritt zur EU wurde alles noch komplizierter und unübersichtlicher.
Die »drei Säulen« des Verfassungs-Konvents sind eine fiktive Versäulung geworden. Sinnvoll wäre eine Verbundlichung der Gesetzgebung mit eventueller Grundsatzgesetzgebung und eine Verländerung der Verwaltung mit Finanzautonomie der Länder.
Die Länder sind nach der Rechtsverfassung parlamentarische Demokratien. In der Realität sind sie Präsidentschaftsrepubliken und die Landeshauptleute mehr als Staatspräsidenten. In der Landeshauptleutekonferenz treffen sich diese als Nebenregierung zum Bund. Es geht zu wie in Brüssel beim Rat der EU.
Die Länderkammer war von Anfang an eine Kompro-Missgeburt. Zu keinem anderen Verfassungsorgan gibt es aber so viele Reformkonzepte ohne Konsequenz wie zum Bundesrat. Spricht das für ihn oder gegen ihn?
Der Bundesrat war meist Regierungskammer, manchmal Oppositionskammer, selten Länderkammer, immer Parteienkammer. Dieser Parteienbundesrat wurde für die einen Vorzimmer der Macht, für die anderen das Ausgedinge nach der Macht. Daher gibt es für die Parteien (k) einen großen Kummer mit der kleinen Kammer.
Jede Gemeinde ist ein eigenes Gemeinwesen und der Bürgermeister ist seit über 150 Jahren »Haupt der Gemeinde«.
Österreich ist eine »Bürgermeisterei«. Aber vergessen wir nicht den Gemeindesekretär, den Stadtamtsdirektor und den Magistratsdirektor.
Schon in der Monarchie hieß es: »Jeder Bürgermeister ist ein Doge, jede Gemeinde ist eine k. k. Republik«, heute eine »Präsidentschaftsrepublik«.
Bürgermeister ist das schönste Amt Österreichs. Weil er das Gegenteil der Gewaltenteilung ist ? Er ist Staatsoberhaupt, Regierungschef, Verwaltungschef, Personalchef, Chef der Volksvertretung, als Organ des Landes und des Bundes Statthalter des Staates und meist auch Parteichef. Und wie ist das mit den Landeshauptleuten?
Die meisten Gemeinden sind Wahlmonarchien. Die kleinste Republik ist auf den demokratischen Kopf gestellt.[18] Einmal Bürgermeister, alleweil Bürgermeister.
Die Gemeindeorganisation bedeutet in der Praxis das Gegenteil der Gewaltenteilung.
In der Bundeshauptstadt Wien ist die Gewaltenkonzentration auf die Spitze getrieben. Denn der Bürgermeister ist auch Landeshauptmann, und so weiter. Er ist wie fast alle Wiener Organe ein potenziertes Organ. Kurz: Der Kaiser ist von der Hofburg ins Rathaus gezogen.
In Wien besteht eine Identität von Organwaltern bei Duplizität der Organe
V. Österreich ist ein Rechtstaat oder lex (Gesetz) = rex (König)#
»Der Rechtsstaat ist wie das tägliche Brot, wie Wasser zum Trinken, wie Luft zum Atmen.«
(Gustav Radbruch 1878 – 1949)
Die Verfassung enthält einen europäischen Traum: Die Herrschaft von Gesetzen und nicht von Menschen (Nomos basileos, lex rex, rule of law and not of men).
Früher einmal hieß es: »princeps legibus solutus«, ... «quod principi placuit legis habet vigorem« – (der Fürst ist frei von Gesetzen; was dem Fürsten beliebt, hat Gesetzkraft) oder »the king can do no wrong«. Aber der europäische Traum, »the taming oft the prince« – die Zähmung des Herrschers, hat sich durchgesetzt.
Die immer aktuelle Frage: Wie hängt man der Katze die Glocke um?
Unser Rechtsstaat wurde aus einer Antistellung groß: gegen den Polizeistaat, gegen Absolutismus, Klerikalismus, Feudalismus und Militarismus. Manches merkt man noch. Ohne Rechtsstaat keine Demokratie. Aber ohne 1866 (Schlacht bei Königgrätz) kein 1867 (der Rechtsstaat der Dezemberverfassung).
Demokratische Republik und Bundesstaat stehen ausdrücklich in der Verfassung, weil sie neu waren. Der Rechtsstaat war schon früher da. Hier genügte das von René Marcic so genannte: beredte Schweigen der Verfassung.
Die Verfassung legt nicht den Gegensatz von Staat und Gesellschaft fest, sondern ihre Unterscheidung durch den Rechtsstaat und ihre Verbindung durch die Demokratie.
»Freiheit ist nach Rosa Luxemburg (1871 – 1919) immer die Freiheit der Andersdenkenden...«
Der Kampf ums Recht – eine moralische Pflicht nach Rudolf Ihering (1818 – 1892) – soll daher immer auch der Kampf um das Recht der anderen sein.
» Es steht im Rechtsstaat kein Mensch über dem Recht und keiner außerhalb des Rechts.«
Das hat der Verwaltungsgerichtshof im Fall »Habsburg« gesagt.
»Iustitia regnorum fundamentum « steht am Heldentor.
»Die gesamte staatliche Verwaltung darf nur auf Grund der Gesetze ausgeübt werden« steht in der Verfassung. Deshalb »Garantien der Verfassung und Verwaltung«. Aber was sind die Garantien der Gerechtigkeit?
Die Grundrechte sollen vor allem die »Gerechtigkeit der Freiheit« gewährleisten. Die Gesetze sollen vor allem die »Gerechtigkeit der Gleichheit« gewährleisten.
Je mehr Gesetze erlassen werden, desto mehr entsteht Herrschaft der Verwaltung auf Grund der Gesetze.
Aus Freiheit durch Gesetze entsteht Abhängigkeit durch Gesetze.
Mehr Rechte bedeuten nicht mehr Freiheit. Aber sie können mehr Gleichheit bedeuten.
Ohne Verfassungs- und Verwaltungsgerichtsbarkeit wäre die Bindung an Verfassung und Gesetz ein frommer Wunsch an die Adresse von Gesetzgebung und Verwaltung.
Die Nomokratie – die Herrschaft der Gesetze – wird durch die Normenkontrolle (Verfassungs- und Verwaltungsgerichtsbarkeit) aus einer lex imperfecta zur lex perfecta. Höchstrichter – politische Richter? Verfassungsgerichtshof – politische Justiz?
Ja, denn es gibt keine Staatsfunktion ohne politischen Charakter. Jeder Richter ist ein politischer Richter. Das hat schon Kelsen (1881 – 1973) erkannt. Ohne Verfassungs- und Verwaltungsgerichtsbarkeit keine verfassungswidrigen Gesetze, keine gesetzeswidrige Verwaltung?
Die Alternative? Willkür.
Die Gewaltenteilung zwischen Regierung und Parlament läuft auf die zwischen Gesetz und Verwaltung und den Dualismus von genereller und individueller Rechtsnorm hinaus.
Durch unsere Koalition ist die Gewaltenteilung in die Regierung verlagert.
Im demokratischen Rechtsstaat bedeutet Legalität Legitimität. Aber es gibt Ausnahmen: Das Gewissen kann über dem Gesetz stehen.
Kelsen ging es mehr um Rechtssouveränität als um Volkssouveränität. Deshalb geht nur das Recht der Republik Österreich vom Volk aus und zwar nur von den Volksvertretungen und das nur unter nachprüfender Kontrolle des Verfassungsgerichtshofes.
Die Gewaltlosigkeit der Zweiten Republik wurde auch durch Kelsens Rechtskategorien vorbereitet. Er hat durch die reine Rechtsterminologie in der Verfassung mehr als die alte Gewaltenterminologie beseitigt.
Freiheit von Gewalt und Willkür wurde in der Zweiten Republik zum Grundkonsens, aber der Rechtsstaat ist immer in Gefahr.
Rechtsstaat – Verfassungsstaat – Gesetzesstaat – Grundrechtsstaat = Freiheitsstaat.
»Jeder Mensch hat angeborene, schon durch die Vernunft einleuchtende Rechte...« (ABGB 1811). Der »Menschenrechtsstaat Österreich« – eine konkrete Utopie
VI. Das österreichische Regierungssystem oder politia mixta #
Das B-VG geht davon aus, dass Gruppenentscheidungen die funktionsfähigste gesellschaftliche Organisationsform sind.
Die Verfassung setzt nicht auf einen großen Führer, sondern auf viele kleine. Vielleicht auf zu viele.
Die Verfassung will verhindern, dass ein Einzelner zu großen Schaden anrichtet. Aber was ist mit den Gruppen?
Österreichs Beiträge zu den politischen Institutionen? Bürokratie, Sozialpartnerschaft, Verfassungsgerichtshof, Verwaltungsgerichtshof, Garantien der Verfassung und Verwaltung ... kurz Konfliktvermeidung und –regelung.
In der Monarchie war der Kaiser Träger jeder Staatsgewalt. Er war die Verwaltung, Gesetze wurden von ihm formell angeordnet, Urteile ergingen in seinem Namen usw. Die Republik vertraut keinem Einzelnen. Gesetze werden von den Parlamenten beschlossen, Urteile ergehen im Namen der Republik.
Und der Bundespräsident?
Er agiert nur auf Vorschlag und unter Gegenzeichnung.
Und alles erfolgt nur auf Grund der Gesetze.
Lex rex.
Die Parteien sind weder Volk noch Staat. Aber wehe, wenn sie weder Volk noch Staat sind.
Über die politische Klasse steht nichts in der Verfassung. Oder sind durch die Gleichheit vor dem Gesetz auch ihre Vorrechte ausgeschlossen?[19]
Die Vereinbarkeit von Ämtern ist die Regel. Oder ? Der Bundespräsident ist als Amt unvereinbar. Aber Unvereinbarkeit ist die Ausnahme.
In unserer Verfassung ist vieles gemischt: Demokratische, aristokratische, oligarchische, monokratische Elemente, Volk, Volksvertretungen, Funktionäre, Beamte und Richter, Hauptleute und Minister; »einer, wenige, viele.«
Unser Regierungssystem ist mehr auf Kompromiss und Sicherheit als auf Entscheidung und Raschheit ein- und ausgerichtet. Das ist eben politia mixta.
Das gemischte Regierungssystem anders: Ein Proporzwahlsystem nach Schweizer Art ist mit einem Verhältnis von Parlament und Regierung nach britischem und konstitutionellem Muster gemischt und darauf ein volksgewählter Präsident nach Weimarer Vorbild gepfropft.
Ist das nicht eine Quadratur von Parlamentarismus und Präsidialismus? Ja.
Können Strukturprinzipien einer Verfassung Strukturdefekte sein ? Ja, aber wenn es funktioniert, fallen sie nicht auf.
Elemente eines parlamentarischen Regierungssystems sind mit solchen eines präsidentiellen verknüpft; das System der Gewaltenteilung von Gesetzgebung und Vollziehung ist mit der Gewaltenverbindung von Parlament und Regierung kombiniert; die repräsentativdemokratischen Komponenten sind auf allen Ebenen durch direktdemokratische ergänzt; aber die direkte Demokratie ist von der repräsentativen bevormundet; das Verhältniswahlsystem und der Proporz stehen im Vordergrund, aber der Majorz überwiegt; in der Regierung ist das Ressort- mit dem Kollegialitätsprinzip gemischt, aber das Ressortprinzip überwiegt und entschieden wird einstimmig; beim Regieren sind die Bundesminister und der Bundespräsident gemischt, aber die Bundesminister überwiegen.
Die Regierung ist vom Parlament und vom Bundespräsidenten abhängig. Er ist auf ihre Vorschläge angewiesen und sie kann nur einstimmig. Wie klingt das?
Wenn die oberste Vollziehung nicht harmoniert, besteht sie aus improvisierenden Solisten, den Bundesministern. Der Dirigent ist längst weggegangen.
Mixed and tempered government, checks and balances, schön und gut. Alles, was Recht ist. Muss das aber im Bereich der obersten Vollziehung auf die Spitze getrieben werden?
Die Gewaltenteilung zwischen Regierung und Parlament ist eine Sache der Form, die zwischen Gesetz und Verwaltung eine des Prinzips. Das Spannungsverhältnis von Parlament und Regierung ist die Polarität von regierenden und oppositionellen Parteien. Das ist die wirkliche Gewaltenteilung. Aber noch wirklicher ist die Gewaltenteilung in den Koalitionsregierungen.
Parlament kommt von parlare, nicht von Papier!
Die Abgeordneten sind unabhängig – am meisten von ... ?
Die contradicto in adjecto » freies Mandat « kann nur ein falsches Bewusstsein erzeugen: den unparteiischen Volksvertreter.
Parlamentarismus – wir haben rund 2500 Volksvertretungen; davon 11 parlamentarische, die gesetzgebende Körper sind. Überall herrscht die Mehrheit, oft auch Einstimmigkeit.
Und die Opposition?
Opposition ist … das Salz in der parlamentarischen Suppe.
Volksvertreter – Parteienvertreter – Interessenvertreter; Interessen = Parteien = das Volk.
»Parliament is a fiction.« Es ist aber auch ein Faktum. Aber was für eines? Und die Opposition?
Die Verfassung legt vieles fest. Aber die Regierungsform ist offen.[20]
Die Regierungsbildung ist das Spannendste in der österreichischen Politik. Die Frage »Wer mit Wem?«, wird selten vor der Parlamentswahl mit »Ohne Wenn und Aber« beantwortet. Die Spannung soll ja bis nach der Wahl bleiben. Oder?
Präsidentschaftsrepublik? Nein! Kanzlerdemokratie? Unter Kreisky: ja; sonst: nein! Ministerrepublik? Ja!
Durch den Beitritt zur EU wurde der Bundeskanzler erst zum Regierungschef. Er und nicht der Bundespräsident sitzt im Europäischen Rat und im Ministerrat der EU. Er und alle Bundesminister wurden potenzierte Organe und Insider – Organe der EU.
Der Bundespräsident ist Outsider der EU. Er vertritt die Republik nach außen. Die Bundesminister sind generell, der Bundespräsident nur speziell zuständig. Die Abgrenzung bedeutet Regel und Ausnahme.
Ein Kanzlerprinzip ist durch Vorschlag, Vorsitz und Koordination nur Ansatz. Aber: Der Kanzler war und ist Verfassungsminister.
Gerade weil über den Bundespräsidenten viel in der Verfassung steht, gehört er zu den statischen Elementen, zu den dignified parts; gerade weil über den Kanzler wenig in der Verfassung steht, gehört er zu den dynamischen, zu den efficient parts.
Der Kanzler ist Aktivkönig, der Präsident Passivkönig, jener ist dux, dieser rex. Das Zeremonielle und das Politische, Statik und Dynamik?
Der Bundespräsident ist ein unselbständiges Staatsoberhaupt, da er nur über Vorschlag agiert. Aber er ist so legitimiert und so stabilisiert wie sonst niemand.
Der Bundespräsident hat keinen wirksamen administrativen Unterbau. Und er ist auch kein wirksamer politischer Überbau. Er ist gleichsam ein » Invalider «, der auf die Regierung angewiesen ist. Aber er kann sie jederzeit entlassen.
Vorschlag und Gegenzeichnung sind die Krücken, mit denen der Bundespräsident gehen lernen muss. Für den einen ist das ein Demütigungsritual, für den anderen eine Spielerei.
Nur in bestimmten Fällen kann er als » deus ex machina « Mittel- und Angelpunkt des Systems sein.
Aber je kleiner die Parteien werden, desto größer kann der Bundespräsident werden.
Der Bundespräsident ist politisch und rechtlich verantwortlich. Aber durch die Regelungen der Verantwortlichkeiten ist er praktisch unabsetzbar. Für die einen ist er ein schlafender Riese, für die anderen ein gefesselter Riese.
Der Bundespräsident kann Staatsmann sein, weil er nie Parteimann sein muss.
Er macht Staat, er macht Republik.
Die Frage der Kandidatur ist gelöst, die Frage Habsburg ist ungelöst.[21]
VII. Verfassung und Realverfassung - Verfassung und Verfassungswirklichkeit[22]#
Verfassung – das ist Recht, Verfassung, das ist schön und gut! Aber was ist Realverfassung? Ist die Realverfassung die politische Realität? Die Verfassungswirklichkeit ? Die verwirklichte Verfassung?
Ist es der Kontext, der den Text bestimmt?
Realverfassung, das kann Umgebung und Umgehung der Verfassung sein. Aber nicht jeder Umgang mit der Verfassung ist eine Umgehung der Verfassung. Aber Umgang mit der Verfassung führt leicht zu einer Realverfassung.
Wenn die Worte der Verfassung dem unbefangenen Betrachter ein anderes Bild als die Verfassungswirklichkeit vermitteln, dann muss man entweder die Verfassung oder die Wirklichkeit ändern.
Verfassungswirklichkeit – Verfassungswidrigkeit ? Nicht alles, was wirklich ist, ist verfassungswidrig.
Wenn aber Organe der Rechtsverfassung nur das nachvollziehen, was Organe der Realverfassung entschieden haben, kann die Verfassung Volkstheater und Rechtsritual sein, sie hat aber ihren Sinn verloren: Ordnung und Kontrolle zu gewährleisten.
Wenn die Realverfassung immer mehr und die Rechtsverfassung immer weniger wird, dann muss man immer mehr vom Rechts- zum Politikwissenschaftler werden.
Die Rituale der Politik laufen fast überall im Sinne einer die Verfassung überwölbenden Superstruktur und der sie unterbauenden Substrukturen ab; aber kann man von Verfassungswidrigkeit sprechen?
Nicht alles, was im Einzelfall politischer ist als die Verfassung, muss in die Verfassung. Was aber übermächtig auf den politischen Entscheidungsprozess einwirkt, ohne verfasst zu sein, wird zur Frage der Verfassung!
Gelb – schwarz war die Realverfassung der Monarchie.
Schwarz – rot wurde die Realverfassung der Republik...
Langjährige Koalitions- und Verfassungspartnerschaft sowie die Sozialpartnerschaft bestimmten die Politik. Das war Realverfassung.
Heute sind die Medien Machtträger. Auch die Landeshauptleutekonferenz wurde zur Nebenregierung, aber nie die Wissenschaft.
Zweiparteiengesellschaft und Kammerstaat, große Koalition und Sozialpartnerschaft, also die Realverfassung waren demokratisch legitimiert und das Plebiszit der Praxis.
Nach 1945 bemächtigte sich die Realverfassung der Rechtsverfassung. Ab 2001 setzte sich die Rechtsverfassung durch. Die normative Kraft des Faktischen wich der faktischen Kraft des Normativen. Und das war gut so.
Schwarz und Rot konnten unter den Besatzungsmächten Österreich an der Basis besetzen: Alles Organisierbare organisieren, integrieren, polarisieren, neutralisieren … Alles, was organisierbar war, wurde organisiert; und was nicht organisierbar war, wurde organisierbar gemacht.[23] Solange jeder von seiner Partei sich fesseln ließ, war das ganze Volk eine schwarz-rote Marionettengesellschaft.
Die Proportionen änderten sich, der Proporz blieb, aber anders.
Rouge ou noir? (1. Republik)
Rouge et noir! (2. Republik) Quousque tandem...
Die beiden Großparteien ÖVP und SPÖ wurden kleiner, die Parteienherrschaft aber nicht.
Politics spielt sich noch immer à la Pawlow ab.
Verfassungskonventionen: Der Bundespräsident tritt sein Amt an, indem er aus seiner Partei austritt oder seine Mitgliedschaft ruhig stellen lässt.
Der Bundespräsident nimmt seine Kompetenzen nicht extensiv, sondern restriktiv oder überhaupt nicht wahr. Man nennt es Rollenverzicht. Die Regierungsbildung findet in der Regel im Anschluss an die Nationalratswahl statt und nicht im Anschluss an die Bundespräsidentenwahl. Trotzdem bietet die amtierende Regierung dem Neugewählten den Rücktritt an. Und schon hat sie sein Vertrauen.
Der Bundespräsident beauftragt in der Regel den Chef der mandatsstärksten Partei mit der Regierungsbildung. Und ernennt die Vorgeschlagenen in der Regel zu Bundesministern und Staatssekretären.
Die zu Mitgliedern der Bundesregierung ernannten Mitglieder des Nationalrates legen ihr Nationalratsmandat zurück. Das ist Gewaltenteilung auf österreichisch. Dementsprechend wurde die Verfassung geändert. Werden sie des Ministeramtes enthoben, erhalten sie das Nationalratsmandat wieder.
Seit kurzem ist ein Stück Realverfassung ein Stück Rechtsverfassung geworden: Die Sozialpartnerschaft. Soll man sich darüber freuen?
VIII. Erste- Zweite- Dritte- Vierte … und die neue Republik#
Die Republik hat mehrere Adjektive erhalten: Demokratische Republik sagt die Verfassung. Sie wurde 1933/34 eine autoritäre. In der Zweiten Republik wurde sie u.a. die unvollendete, die blockierte, die vergeudete, die erstarrte, die ambivalente, die paradoxe, die neue Republik genannt. Aber die neue Republik, das ist doch die EU!
1918 – 1929 Erste Republik; 1929 – 1933 Zweite Republik; 1934 – 1938 Dritte Republik; 1945 – 1955 Vierte Republik; 1955 – 1994 Fünfte Republik; 1995 – ....... Sechste Republik!
Und was war 1938 – 1945?
Und waren 1918 – 1919 und 1919 – 1920 nicht die ersten Republiken?
Erste Republik: Der Staat, den die Siegermächte wollten.
Zweite Republik: Der Staat, den die Siegermächte wieder wollten.
Erste Republik: Der Staat, den nur andere wollten.
Zweite Republik: Der Staat, den auch wir wollten.
Erste Republik und Zweite Republik: Kleinstaat von der Großmächte Gnaden; einmal ein Oktroy, einmal eine Befreiung.
Die erste Verfassung der Ersten Republik war eine Abhängigkeitserklärung: wir wollten zu Deutschland gehören.
Die erste Verfassung der Zweiten Republik war die Unabhängigkeitserklärung: wir wollten nicht mehr zu Deutschland gehören.
Dazwischen entstand der Wille zur Eigenstaatlichkeit und Selbstständigkeit.[24] Aber » Nation Österreich « waren wir lange nicht.
Wir waren eine Hofrats-Nation, manchmal Resig-Nation, manchmal Stag-Nation, immer Natur- und Landschafts-Nation, aber nie Verfassungsnation.
Die Österreicher sind eine Realnation geworden, weil sie sich daran gewöhnt haben. Eine Gewohnheitsnation wurde Willensnation.
Für viele Österreicher wurde unsere Nationalität erst durch die Neutralität konstituiert! Wir waren aber als Republik schon 1918 »quasi – neutral«, da wir gar nicht am Krieg beteiligt sein konnten. Daher waren wir 1918 schon eine »Quasination«. Oder?
Der Bundesstaat wurde der Form nach neu eingerichtet, inhaltlich blieb Österreich ein dezentralisierter Einheitsstaat. Erst in der jüngsten Zeit wurden die Bundesländer selbständige Länder.
Die Österreicher mussten sehr viel lernen: Kleinstaat, Demokratie, Republik, Bundes-staat, das war neu. Die Neutralität war neu. Die Schweizer hatten das schon lange. Wir mussten das alles erst lernen. Lernen ist Mühsal! Was fiel uns am leichtesten?
1918, 1945, 1955: Die Schweiz unser Vorbild und Lehrmeister. Bald nach 1918 und bald nach 1955 haben wir das vergessen. Erste Republik: Die Politiker strebten die Mehrheit an, um den Staat in den Dienst ihrer Partei zu stellen:
Und wie war es in der Zweiten Republik?
In der Ersten legitimierte man sich damit, dass man die faktische oder fiktive Gefahr einer Diktatur der anderen abzuwehren behauptete.
Und in der Zweiten Republik?
Die Tragödie der Ersten Republik ergab sich aus Apperzeptions- und Kommunikationsverweigerung; die success story der Zweiten Republik aus Realpolitik und Kooperation.
Small is hard – das war die Erste Republik. Small ist beautiful – die Zweite. Dazwischen waren zwei Diktaturen.
Die Erste Republik hatte viel Möglichkeitssinn und zu wenig Wirklichkeitssinn, die Zweite viel Wirklichkeitssinn und weniger Möglichkeitssinn.
Die Erste Republik bestand aus wenigen und großen Verfassungsreformen; die Zweite Republik bestand aus vielen kleinen Reformen.
Unter allen Staaten ist die Erste der Zweiten Republik am ähnlichsten. Und doch ist sie so anders.
Tragödie und success story fanden unter der gleichen Verfassung statt. Die gleichen Worte trafen ungleiche Wirklichkeiten. Die gleiche Verfassung wurde ungleich verwirklicht. Welcher Staat ist uns heute am ähnlichsten? Die Schweiz! Oder?
1955 haben wir die dauernde Neutralität nach dem Muster der Schweiz beschlossen. Aber die Kriegserklärung blieb im Verfassungstext.
1956 beschloss das ungarische Nationalkomitee seine Neutralität nach österreichischem Muster. Bei uns wollte das die SU, bei den Ungarn aber nicht.
Merke Merkl: »Der Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich – eine Geschichtslegende«. Soweit rechtlich; faktisch schauen die Dinge anders aus.
Die österreichische Geschichte ist eine Geschichte von Befreiungen, weil sie eine Geschichte von Unterdrückungen war. Nach der »Befreiung der Befreiten« 1955 wurde die Freiheit schwarz-rot... 1945 rief Figl als Bundeskanzler: »Österreich ist frei !« 1955 rief er als Außenminister: » Österreich ist frei !«
Wie oft muss ein Volk befreit werden, bis es frei ist?
Es gibt in unserer Geschichte wenige Entweder-oder, aber viele Sowohl-als-auch: Sowohl Opfer als auch Täter, sowohl Befreier als auch Befreite, sowohl alte Kämpfer als auch Widerstandskämpfer, sowohl Unabhängige als auch Abhängige, sowohl Genossen als auch Parteigenossen, sowohl Vergessende als auch sich Erinnernde, sowohl Vernehmende als auch Vergebende...
Nach dem doppelten Bürgerkrieg: schwarz gegen rot und schwarz gegen braun, und nach der zweifachen Besetzung und mehrfachen Besatzung braucht man eine polychrome Geschichtsschreibung!
Im Gegensatz zu fast allen anderen Staaten Kontinentaleuropas baute sich Österreich nach dem Zweiten Weltkrieg keine neue Verfassung.
Wir zogen wieder in das alte Verfassungsgebäude ein.
Aber war es dieselbe Verfassung, war es dieselbe Gesellschaft? Ja und nein. Durch die Unabhängigkeitserklärung 1945, durch das Verbotsgesetz, durch das Nationalsozialistengesetz und den Staatsvertrag 1955 wurde aus einer »Verfassung ohne Entscheidung« eine »Verfassung gegen Faschismus und Nationalsozialismus«. Aber wer weiß das?[25]
Die wertneutrale Demokratie wurde rechtlich zu einer streitbaren. Aber ist die wertneutrale Demokratie wirklich wehrhaft geworden?
Dieses »Staatslegitimationsrecht« lässt mehr »links« als »rechts« zu, man ist aber mehr »rechts« als »links« geworden. Vergessen wir die Staatsziele nicht. Durch sie wurde die Verfassung aus einer Verfassung ohne Entscheidung zur Verfassung mit vielen, vielleicht zu vielen Entscheidungen. Aber sie sind sanktionslos.
»Österreich« kommt von den Siegermächten 1919 und 1945, der Grundrechtskatalog aus Altösterreich und aus Europa, die wehrhafte Demokratie aus der Unabhängigkeitserklärung, aus dem Staatsvertrag usw., die Nationalität aus der Neutralität... Das sind unsere Grundwerte... Und wo bleibt die EU?
Die Österreicher müssen lernen, ihre Nationalität von der Neutralität zu lösen.
Aber manche wollen ja sogar eine Natrolität.
Glücklich ist, wer vergisst...? Aber frei? Glücklich ist, wer verzicht‘! Aber frei? Frei wird, wer sich erinnert!
Es gibt nur ein Gewissen und das ist schlecht.
Amnesie oder Amnestie? Amnesie nein, Amnestie naja!
Vergessen und vergeben? Nie vergessen und nicht immer und nicht alles vergeben!
Eine komplexe Geschichte verlangt eine komplexe Schau. Zeitgeschichte muss polyperspektivisch sein.
Wir haben aus der Geschichte gelernt. Wir sind ein bisschen europäischer, internationaler, ja sogar kosmopolitischer geworden. Aber menschlicher?
Merkwürdig war, dass bei uns Hymnen oft nur gespielt und selten gesungen werden. Wer singt die Europahymne?
In der Zweiten Republik zog man im Geiste der Verfassung 1920 ihre Fassung 1929 an.
Die Sozialdemokraten haben davon am meisten profitiert, obwohl sie seinerzeit am meisten dagegen waren.
Seit Kreisky hat das österreichische Volk keinen Minderwertigkeitskomplex mehr. [26]
Rot – ich weiß – rot – Ära Kreisky. Rot – ich weiß nicht – rot – heute.
In der Ära Kreisky wusste man einige Zeit, wer regiert. Seine Konstitution wurde Verfassung, die Politik wurde persönlich.
In der Ära Kreisky vergaß man, dass die Verfassung durch ihr Regierungssystem Mehrheiten und Regieren erschwert. Man wurde vielmehr daran erinnert, wie sehr die Verfassung durch ihr Regierungssystem die Herrschaft der Mehrheit erleichtert.
Nach Kreisky lernte man wieder, wie sehr die Verfassung Mehrheitsbildung und Regieren erschwert. Plädoyers für Mehrheitswahlrecht hörten seither nicht auf.
Nachdem jahrzehntelang die normative Kraft der Realverfassung immer stärker geworden war, verstärkte die Erosion der Großparteien die faktische Kraft des Normativen.
Die faktische Kraft des Normativen hat sich gegenüber der normativen Kraft des Faktischen durchgesetzt. Das Normative wurde normal.
Normalisierung: Freiheitsrechte und Verhältniswahlrecht führen zum Mehrparteiensystem und zur Liberalisierung. Durch die Liberalisierung der Gesellschaft kam es zur Normalisierung der Verfassung.
Die Unabhängigkeitserklärung war der Geburtsschein, der Staatsvertrag der Taufschein und das Neutralitätsgesetz der Pass der österreichischen Nation.
Und was ist der Beitritt zur EU?
Das Neutralitätsgesetz brachte die Willensnation Österreich. Denn als die Menschen daran glaubten, wollten sie es auch.
Österreich ist unsere Heimat. Heimat Österreichs ist Europa.[27]
Unser Motto könnte sein: Vom Mitgliedsstaat im Staatenbund zum Bundesland im Bundesstaat.
12. Juni 1994: Der Souverän hat dem Sondermächtigungsgesetz direkt und damit der Gesamtänderung der Bundesverfassung indirekt zugestimmt.
Aber nicht erst seit 1995 stellen sich die Fragen: Sind wir noch ein Staat ? Und: Sind wir schon ein Staat?
Österreich wurde europäisiert. Wurde es entösterreichert?[28]
Wissen die ÖsterreicherInnen, dass sie durch ihr Referendum eine neue Republik eingeläutet haben? Mit dem EU Beitritt hat Österreich seine Nachkriegsgeschichte abgeschlossen. Seitdem suchen wir eine neue Rolle, aber wir haben sie noch nicht gefunden!
Wissen die ÖsterreicherInnen, in welcher Verfassung sie sind ? Die Republik Österreich hat zwei Grundordnungen: Eine Staatsverfassung und eine überstaatliche. Werden die zwei zu einer werden ? Ja, durch die Praxis.
Europa war eine Wiege der Demokratie. Die EU kann die Wiege einer neuen Demokratie werden.
Ist die Europäische Union das bonum commune? Für mich schon!
Die EU ist die »neue Republik«. Aber mit zuviel Montesqieu und zu wenig Rousseau.
Die sui generis Entität der EU macht die Mitgliedstaaten zu sui generis Entitäten.
Das Europäische Parlament ist vielen zu schwach. Aber österreichische Mitglieder versichern, dass sie als Parlamentarier in keiner Volksvertretung so stark waren wie im Europaparlament.[29]
An der Spitze der EU ist die Gewaltenteilung durch Inter- und Intraorgankontrollen so auf die Spitze getrieben wie es sich Montesquieu nicht hätte träumen lassen.
Ist die EU in einer existentiellen oder in einer institutionellen Krise? Oder in beiden? Das ist dann eine konstitutionelle Krise!
Solange die EU nach außen nicht mit einer Stimme spricht, wird sie auch nach innen nicht wahrgenommen.
Die Friedensgemeinschaft des Anfangs wird immer mehr zur Neidgesellschaft, ohne Alternative.
Geist der Verträge – Herren der Verträge; sind die Herren der Geist?
Die EU – Devise »in Vielfalt geeint« kann und soll durch das altösterreichische »viribus unitis« ergänzt werden.
Ohne Staat keine Verfassung ? Ohne Verfassung kein Staat?
Es gibt völkerrechtliche Grundordnungen mit Menschenrechtskatalogen, Gewaltentrennung und auch Volkssouveränität. Ihre Grundlage sind Verträge. Aber sind die Grundlagen der Verfassungen nicht auch Verträge?
Es gibt eine Konstitutionalisierung ohne Konstitution. International gibt es sogar mehr »constitutional conversation« als innerhalb der Staaten.
Oder geht die Verfassungs- und Reformdiskussion weiter?
Anmerkungen#
[1] Verfassung hat viele Bedeutungen. Hier meint sie das Rechtsfundament eines Staates. Dieses Verfassungsrecht wird in einem besonderen Verfahren erzeugt, ist erschwert abänderbar und setzt sich gegenüber von ihm abhängigen, niederrangigen Rechtsnormen langfristig durch.
[2] Die Verfassung teilt Gesetzgebung, Verwaltung, Gerichtsbarkeit, Kontrolle auf verschiedene Organgruppen auf, die aber nicht nur voneinander getrennt, sondern auch in bestimmter Weise miteinander verbunden sind.
[3] Aber darüber muss aufgeklärt werden
[4] Der Weg zur Freiheit sollte auch ein Weg zur Wahrheit werden
[5] Aber die haben nur Österreicher ( innen ), Ausländer und Staatenlose haben andere »Rechte«.
[6] Dieses Urrecht für jeden Menschen, nicht nur für Staatsbürger, soll überall oben hängen. Alles andere soll darunter hängen.
[7] Aber mit Unterbrechungen
[8] Republik und Demokratie waren für die einen » nur der Weg zum Sozialismus «, für die anderen gerade nicht »die wahre Demokratie«.
[9] Deshalb haben wir so viele Parteien.
[10] Seither kann vieles geändert werden, ohne dass es eine Gesamtänderung ist .
[11] Das alles ist Zeitgeschichte.
[12] Daran merkt man, wie viel es den Verfassungspartnern wert war und wert ist.
[13] Aber welche ? Den umfassenden Umweltschutz als Staatsziel?
[14] Sogar als Verfassung der Freiheit!
[20] Regierungsform ? Regierungsformen!
[21] S. Siegbert Morscher, Verfassungspolitische Konnotationen, 2010, S. 24 f.
[22] Verfassung und Verfassungswirklichkeit sind nur ein Spezialfall von Recht und Rechtswirklichkeit.
[23] Aber was war mit dem Dritten Lager ? Es war nicht Teil der Realverfassung. Oder?
[24] Aber wann das genau war, weiß man nicht. Es war nämlich nicht genau.
[25] Wissen das alle Parteien ? Alle Politikerinnen und Politiker?
[26] Aber es hat auch diesen nur verdrängt. Es weiß nicht, was mit ihm los ist.
[27] Aber dort ist Österreich noch nicht angekommen.
[28] Nein, es wurde provinziell verösterreichert.
[29] Das ist nicht ironisch gemeint