Pionierin des Blockunterrichts#
Vor 75 Jahren starb die Pädagogin Eugenie Schwarzwald. Sie war eine bedeutende Vorkämpferin der modernen Erziehung - insbesondere in der Mädchenbildung.#
Von der Wiener Zeitung (Sa./So., 15./16. August 2015) freundlicherweise zur Verfügung gestellt.
Von
Friedrich Weissensteiner
Sie war eine außergewöhnliche Frau: unkonventionell, aufmüpfig gegen die (Schul-)Behörden, hilfreich, weltoffen, eine Humanistin in bestem Wortsinn, eine Kämpferin für Freiheit und Menschenwürde.
Eugenie Nußbaum, wie sie mit ihrem Mädchennamen hieß, wurde am 4. Juli 1872 in Polupanowka, einem kleinen Ort in Ostgalizien nahe der russischen Grenze, geboren. Sie wuchs in Czernowitz auf, besuchte die höhere Töchterschule und anschließend die Lehrer- und Lehrerinnenbildungsanstalt der Stadt. Von den Fächern, die dort unterrichtet wurden, blieb ihr nur der Deutschunterricht in Erinnerung. Das Schulklima empfand sie als "dumpf, kalt und muffig". Die Jahre, die sie in der Schule absaß, betrachtete sie als Zeitverschwendung. Diese negativen Erfahrungen ließen in ihr den Entschluss reifen, das verkrustete und verkorkste österreichische Schulsystem aufzubrechen und zu reformieren.
Die Gelegenheit dazu bot sich erst Jahre später. Vorerst inskribierte sie mit finanzieller Unterstützung einer Verwandten an der Züricher Universität Germanistik, Pädagogik und Philosophie. Zürich war damals die einzige Hochschule in Europa, die Frauen zum Studium zuließ. Aber auch dort begegnete sie Vorurteilen und musste lernen, sich durchzusetzen. Eugenie Schwarzwald behauptete sich inmitten einer zahlenmäßig weitaus größeren männlichen Studentenschar.
Betätigungsfeld Wien#
Am 30. Juli 1900 promovierte sie zum Doktor der Philosophie. Einige Tage später verlegte sie ihren Wohnsitz nach Wien. In der Haupt- und Residenzstadt des multinationalen habsburgischen Kaiserreiches pulsierte das Leben. Sie zog wie ein Magnet Menschen aus allen Gebieten des weiträumigen Staatswesens an, die sich hier ein besseres Leben erhofften, ihre Talente zur Entfaltung bringen und Karriere machen wollten. Ihre Beweggründe waren so mannigfaltig wie ihre Herkunft.
Die achtundzwanzig Jahre alte, willensstarke Frau aus dem entfernten Galizien hatte den unbändigen Wunsch, in der Zweimillionenstadt pädagogisch zu wirken. Um ihre Pläne in der erzkonservativen Wiener Gesellschaft durchzusetzen, benötigte sie Tatkraft und selbstbewusste Zuversicht. Sie war davon überzeugt, diese Eigenschaften zu besitzen.
Bevor sie jedoch ans Werk ging, setzte sie einen wichtigen persönlichen Schritt - sie heiratete. Der Mann, der an ihrer Seite durchs Leben ging, war wie sie jüdischer Abstammung. Dr. Hermann Schwarzwald, der an der Universität Czernowitz Jus studiert und 1895 promoviert hatte, war gehbehindert und keineswegs eine attraktive Erscheinung. Er war scharfzüngig und hatte einen hellwachen Verstand. Im Staatsdienst tätig, brachte er es im Finanzministerium bis zum Sektionschef. Elias Canetti urteilte nach einer ersten kurzen Begegnung: "Viel besser als sie gefiel mir der schweigsame Dr. Schwarzwald, ein kleiner, etwas verkrüppelter Mann, der sich an einem Stock fortbewegte und dann grimmig in eine Ecke setzte, von wo er das endlose Gerede der Besucher und das endlosere der Frau Doktor über sich ergehen ließ . . . Seine wortlose Strenge wischte auf der Stelle alles hinweg, was von der Frau Doktor dahergeschwatzt wurde . . ."
Man sollte daraus keine falschen Schlüsse ziehen. Herr und Frau Dr. Schwarzwald waren von ihrem Naturell her grundverschieden, aber sie ergänzten einander vortrefflich.
Eugenie Schwarzwald passte mit ihren revolutionären pädagogischen Reformideen vollkommen in das bunte gesellschaftliche Gewebe der Kaiserstadt zur Jahrhundertwende. Der Zufall spielte ihr dabei in die Hände. Als im Frühjahr 1901 die Direktorin eines der damals in Wien existierenden privaten Mädchenlyzeen aus gesundheitlichen Gründen die Leitung der Schule zurücklegte, griff sie kurz entschlossen zu. Nun hatte sie die Gelegenheit, ihre erzieherischen Pläne in die Tat umzusetzen.
So einfach, wie sie es sich vorstellte, war das freilich nicht. Ihr Vorschlag, das sechsklassige Lyzeum durch Ergänzungskurse auf Maturaniveau zu bringen, wurde von der Schulbehörde abgelehnt. Die Mädchenbildung auf einen Level zu bringen, der für die Knaben vorgesehen war - das durfte nicht sein.
Da sie selbst keine Lehramtsprüfung besaß, lehnte die Schulverwaltung auch ihre Bestellung zum Direktor ab, um die sie angesucht hatte. In einer sich über ein Jahrzehnt hinziehenden Auseinandersetzung, die Eugenie Schwarzwald argumentativ geschickt führte, erreichte die energische Pädagogin schließlich doch die Gründung eines achtklassigen Mädchenrealgymnasiums und den koedukativen Unterricht für die Volksschulkinder. Es waren Meilensteine in der österreichischen Mädchenbildung.
Auch wenn sie einen männlichen Direktor anstellen musste, bestimmte Eugenie Schwarzwald doch das pädagogische Klima und den Unterrichtsstil an der Schule. "Langeweile (ist) ein Gift (. . .), welches Kindern nicht einmal in kleinsten Dosen gereicht werden darf", war eine ihrer vielen pädagogischen Devisen. Die Kinder, die ihre Schulen besuchten, sollten sich wohlfühlen, in einer ungezwungenen Atmosphäre Freude am Lernen haben. Die Schülerinnen wurden zum kritischen Denken erzogen, Persönlichkeitsbildung und schöpferische Leistung bildeten schwerpunktmäßig das Fundament des erzieherischen Konzeptes.
Der Lehrplan lehnte sich an den der staatlichen Schulen an. Besonderer Wert wurde auf den Musik - und Zeichenunterricht gelegt - Fächer, in denen die Mädchen ihre künstlerischen Talente frei entfalten konnten. In der Schwarzwaldschule in der Wiener Innenstadt (Wallnerstraße 9) gab es 22 Klassenräume, eine Bibliothek, naturhistorische Sammlungen und einen Festsaal für die verschiedensten Veranstaltungen, der auch als Turnsaal Verwendung fand. Bei Schönwetter stand den Schülerinnen eine Dachterrasse für Gymnastikstunden und Spiele zur Verfügung. Die staatlichen Schulen konnten da vergleichsweise nur schwer mithalten.
Schule und Avantgarde#
Die Lehrer, die Eugenie Schwarzwald an ihrer Schule beschäftigte, teilten ihre pädagogischen Prinzipien. Sie begegneten den Schülerinnen mit Wohlwollen, förderten ihre individuellen Vorlieben und Talente. Zum Missvergnügen der Behörden lud die "Fraudoktor", wie man sie auch apostrophierte, Avantgardekünstler zum Unterricht an ihrer Schule ein.
Besondere Aufregung verursachte die Anstellung Oskar Kokoschkas als Zeichenlehrer. Der zuständige Schulinspektor fällte über dessen Unterrichtsstil ein vernichtendes Urteil. Alles, was die Kinder seit Schulbeginn gemalt hätten, sei ein "Chaos von kindischen Patzereien gewesen", berichtete er der vorgesetzten Schulbehörde. Eugenie Schwarzwald verteidigte Kokoschka energisch. "Exzellenz, Oskar Kokoschka ist ein Genie, man weiß es nur noch nicht", sagte sie zum Unterrichtsminister, als sie dieser zu einer Aussprache vorlud. Er gab trocken zur Antwort: "Genies sind im Lehrplan nicht vorgesehen."
Arnold Schönberg hielt an der Reformschule ein Seminar für Komposition, den mit ihr befreundeten Architekturrevolutionär Adolf Loos beauftragte sie mit dem Bau eines Hauses in der Josefstädterstraße 68, in dem sie zahlreiche Gäste mit offenen Armen empfing. In ihrem palais en miniature fanden sich Künstler und Intellektuelle zum anregenden Gedankenaustausch ein.
Eugenie Schwarzwald erläuterte ihre wegweisenden pädagogischen Ideen und Konzepte nicht nur in Gesprächen, sondern auch in zahlreichen Artikeln in der Tagespresse. Im Ersten Weltkrieg widmete sich die pazifistisch gesinnte Pädagogin neben ihrer beruflichen Arbeit mit ganzer Kraft karitativen Aufgaben. Während die Kriegsbegeisterung hohe Wellen schlug, rief Eugenie Schwarzwald zur Gründung von Gemeinschaftsküchen auf. Mittellose Menschen sollten in alkoholfreien Speisehäusern ein warmes Mittagessen zum Selbstkostenpreis einnehmen können. Trotz des Hohns, den sie mit ihrem Aufruf erntete, setzte sie ihre Idee in Wien und später auch in Berlin in die Tat um.
Ihre Hilfsbereitschaft kannte keine Grenzen und keine Einschränkungen. Mit der Aktion "Wiener Kinder aufs Land" ermöglichte sie Stadtkindern den Aufenthalt in guter Luft und einer intakten Umwelt. Alte und hungernde Menschen wurden unter ihrer (An-)Leitung mit dem Nötigsten versorgt.
Nach 1918 setzte Eugenie Schwarzwald ihre pädagogische und karitative Pionierarbeit fort. An ihrer Schule ging sie abermals einen neuen Weg. Sie ersetzte das Mädchenlyzeum nach und nach durch die "Frauenschule." In diesem neu etablierten Schultyp wurden die Fächergrenzen aufgelöst. Deutsch, Philosophie und Geschichte wurden beispielsweise in einem Block unterrichtet. Ein solcher Blockunterricht ist auch heute ein pädagogisches Desideratum. Auch mit der Einführung eines Elternsprechtages war Eugenie Schwarzwald ihrer Zeit voraus. Der Sozialdemokrat Otto Glöckel, der von 1922 bis 1934 Amtsführender Präsident des Wiener Stadtschulrates war, hat diese Reformen ausdrücklich begrüßt.
Das gewaltsame Ende#
Aus den unerquicklichen politischen Querelen dieser Zeit hielt sich Eugenie Schwarzwald heraus. Sie war jedoch hellhörig genug, um das Unheil voraus zu sehen, das der Welt vom nationalsozialistischen Deutschen Reich drohte. Sie selbst unternahm Anfang März 1938 eine Vortragsreise nach Dänemark, von der sie nach der Okkupation Österreichs nicht mehr in ihre Heimat zurückkehrte.
Die Nazis zerstörten mit einem Federstrich ihr Lebenswerk. Sie nahmen ihr alles: die Heimat, die Schulen, das Vermögen. Um ihre Gesundheit stand es schlecht. Der unermüdliche Einsatz für die Mädchenbildung und ihre philanthropische Arbeit forderten ihren Tribut. Sie wurde von einem hartnäckigen Brustkatarrh geplagt. Die Ärzte diagnostizierten Brustkrebs. Eugenie Schwarzwald unterzog sich einer Operation und emigrierte in die Schweiz, wo sie bei einem alten Freund in Zürich Unterschlupf fand. Der Kampf gegen den heimtückischen Feind in ihrem Körper war vergeblich. Sie verstarb am 7. August 1940. In Wien, wo die verdienstvolle Pädagogin jahrzehntelang erfolgreich tätig war, sind ihre Spuren fast verlöscht. Lediglich eine kleine Dauerausstellung in der Volkshochschule Hietzing und ein Weg im 22. Bezirk erinnern an ihr Werk.
Literaturempfehlung:#
Deborah Holmes: Langeweile ist Gift. Das Leben der Eugenie Schwarzwald. Residenz Verlag 2012.
Friedrich Weissensteiner war Direktor eines Wiener Bundesgymnasiums und ist Autor zahlreicher historischer Bücher (u. a. "Die rote Erzherzogin", "Die Frauen der Genies", "Große Herrscher des Hauses Habsburg").