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Vernachlässigung in Stille #

Das Schulungs- und Beratungszentrum für Gehörlose, „equalizent“, feiert heuer sein zehnjähriges Dasein. Die Situation Gehörloser bleibt prekär. #


Mit freundlicher Genehmigung der Wochenzeitschrift DIE FURCHE (Donnerstag, 17. Juli 2014)

Von

Julia Theresa Ortner


Gebärdensprache
Gebärdensprache
Foto: © Shutterstock

Im kleinen gelben Altbau im zweiten Wiener Gemeindebezirk ist es ruhig, der Garten des Schulungszentrums ist dennoch sehr belebt: Rund um einen Tischtennistisch haben sich Jugendliche aufgestellt, je einer von ihnen spielt den Ball weiter, bevor er ans nächste Ende des Tisches läuft und der nächste Spieler sein Glück versucht. Junge Frauen beobachten das Treiben und heben ab und an ihre Hände in die Höhe, die sie mit ausgebreiteten Handflächen schnell nach links und rechts drehen – Beifall. Es handelt sich um eine Gruppe gehörloser Jugendlicher, die von „equalizent“ betreut und am Weg in ihre berufliche Zukunft begleitet werden.

„Bis 1986 war es verboten, die Gebärdensprache zu verwenden. An der Tafel stand die Lehrerin und sprach über eine Induktionsschleife direkt in die Hörgeräte der Kinder“, erklärt Monika Haider. Überzeugt von der Tatsache, dass behinderte Kinder viele Impulse und Reize brauchen, gründete sie vor zehn Jahren das Schulungszentrum „equalizent“, in dem die Gebärdensprache erstmals als Unterrichtssprache festgelegt wurde.

Unterricht in einer Fremdsprache #

Zwischen 8000 und 10.000 Österreicher kommunizieren durch die seit 2005 gesetzlich anerkannte österreichische Gebärdensprache (ÖGS). 90 Prozent der gehörlosen Kinder stammen aus einem hörenden Elternhaus. „Diese erleben das als Schock und gehen zum Arzt, der ihnen höchstwahrscheinlich Sprachförderung im Kindergartenalter oder eine Operation des Kindes empfehlen wird“, weiß Haider. Mühsam erlernen die Kinder dann die deutsche Lautsprache, ohne sich dabei selbst zu hören. „Die ganze Sprachentwicklung ist für sie eine Plage und kann nie ins Abstrakte hineingehen“, so Haider. Als Folge treten junge Gehörlose mit einem Wortschatz von gerade einmal 200 Begriffen in die Volksschule ein – hörende Gleichaltrige beherrschend zu dieser Zeit rund 2000 Wörter. Während diese den Umfang stetig ausweiten, etwa indem sie Gehörtes wiederholen, ist das bei gehörlosen Kindern nicht möglich, weil sie nach wie vor hörend gerichtet erzogen werden.

„Das Bildungssystem in Österreich erkennt den Gehörlosen ihr Recht auf ihre eigene Muttersprache, die ÖGS, nicht zu“, betont Helene Jarmer, Behindertensprecherin der Grünen, Präsidentin des Österreichischen Gehörlosenbundes und erste gehörlose Abgeordnete. Für betroffene Kinder bleibe die Lautsprache immer eine Fremdsprache, trotzdem sei ihre gesamte schulische Laufbahn auf eben diese ausgerichtet. „Statt Physik gibt es Logopädie, Chemie und Englisch gibt es gar nicht“, so Monika Haider. Verlassen gehörlose Jugendliche die Schule, ist ihr Wissensstand im Vergleich zu hörenden Gleichaltrigen deshalb sehr gering: 80 Prozent sind funktionale Analphabeten, 25 Prozent der Gehörlosen haben als höchsten abgeschlossenen Bildungsabschluss die Hauptschule vorzu weisen, 40 Prozent eine Lehre, 3 Prozent haben maturiert und gerade einmal 0,5 Prozent verfügen über einen Universitätsabschluss.

Benachteiligung im Beruf #

Das Bildungsdefizit wirkt sich auch auf die beruflichen Perspektiven der Gehörlosen aus. „Wenn sich gehörlose Menschen um eine Stelle bewerben, herrscht oft blankes Entsetzen, weil ihre Sprachkompetenz so viel schlechter ist als jene der hörenden Mitbewerber“, weiß Jarmer. Um die Chancen am Arbeitsmarkt zu verbessern, wurden deshalb früher an die schulische Ausbildung gleich spezielle Berufsausbildungen angeschlossen. Handwerkliche Berufe wie etwa Gürtelmacher oder Schneider wurden erlernt. „Die Eltern waren froh, dass ihre Kinder unterstützt wurden. Dennoch schrammten die meisten Ausbildungen am tatsächlichen Arbeitsmarkt vorbei“, erklärt Haider. Um diesen Kreislauf zu durchbrechen, bietet „equalizent“ nach dem Hauptschulabschluss ein spezielles Programm zur Persönlichkeits- und Kommunikationsentwicklung, an das anschließend die Jugendlichen in ihre Wunschbranche vermittelt werden.

Obwohl sich der Arbeitsmarkt auf diese Weise nach und nach auch für Gehörlose öffne (viele sind etwa Gebärdensprachtrainer, Architekten, Sozialarbeiter oder Zahntechniker), wünscht sich Haider, dass die Ausbildungsgesetze überarbeitet werden: „Wenn man nicht hören kann, darf man derzeit zum Beispiel kein Kindergartenpädagoge werden, weil man befürchtet, dass man dadurch nicht ausreichend auf die Kinder aufpassen kann. Dabei darf ein Kindergartenpädagoge – ob hörend oder gehörlos – sowieso keine Gruppe alleine führen“.

Eine zweite Sprache. „Eltern gehörloser Kinder sollten von Anfang an in der Gebärdensprache kommunizieren“, so die grüne Behindertensprecherin Helene Jarmer., Foto: © APA / Jäger
Eine zweite Sprache. „Eltern gehörloser Kinder sollten von Anfang an in der Gebärdensprache kommunizieren“, so die grüne Behindertensprecherin Helene Jarmer.
Foto: © APA / Jäger

Um die Bildungs- und damit die Gesamtsituation der gehörlosen Österreicher zu verbessern, wird die Integration der ÖGS in den Kindergarten und die Schule als Schlüssel angesehen: „Bilingualer Unterricht muss als Recht sichergestellt werden. Das ist der wichtigste Punkt, um den Zugang zur Bildung zu verbessern“, ist sich FPÖ-Behindertensprecher Norbert Hofer sicher. Gemeint ist damit der gleichzeitige Unterricht in deutscher Laut- und Gebärdensprache, wie es in einigen wenigen Schulen Österreichs schon der Fall ist. „Gehörlose Kinder müssen selbstverständlich auch die Lautsprache erlernen, weil es die dominierende Sprache in unserer Gesellschaft ist, aber es muss endlich damit aufgehört werden, dass man sich nur auf die Lautsprache beschränkt“, meint Jarmer. Ein entsprechender Antrag sei bereits gestellt worden, während sich Hofer zuversichtlich zeigt, dass dieser im kommenden Jahr auch umgesetzt wird, sieht Helene Jarmer hier wenige Chancen. Auch die Unterstützung der gehörlosen Schüler sowie barrierefreie Unterrichtsmaterialien stünden laut Ulrike Königsberger-Ludwig, SPÖ-Behindertensprecherin, noch aus.

Gebärdensprache inklusive #

Einen ersten Schritt in Richtung Besserung hätte für Franz Huainigg, Behindertensprecher der ÖVP, die 2013 beschlossene „LehrerInnenbildung Neu“ gebracht: „Es ist nun möglich, dass auch behinderte Studierende an den Pädagogischen Hochschulen zugelassen werden und Grundvoraussetzung, dass jeder Lehrer Grundkenntnisse in der Inklusionspädagogik mit auf den Weg bekommt“, erklärt er. Der zweisprachige Unterricht würde sich laut Königsberger- Ludwig auch positiv auf andere Bereiche auswirken: „Ich bin überzeugt, dass ein gemeinsamer Unterricht ein wichtiges Instrument ist, um Barrieren in den Köpfen der Kinder und Eltern abzubauen.“

Aber nicht nur Bildungseinrichtungen sind gefragt – auch das eigene Elternhaus muss sich an die neue Situation anpassen: „Wenn ein gehörloses Kind geboren wird, sollten die Eltern Gebärdensprache lernen, damit sie von Anfang an mit ihrem Kind kommunizieren können“, meint Jarmer. Oft würden junge Gehörlose von den täglichen Abläufen in der Familie ansonsten ausgegrenzt, Informationen – etwa aus Diskussionen – nur verkürzt an sie weitergegeben. Wie in vielen Bereichen gilt Skandinavien auch hier als Vorbild: Nach der Geburt eines gehörlosen Kindes besuchen Frühförderer die Eltern, um ihnen die Gebärdensprache beizubringen. Die Zeichensprache wird dort selbstverständlich in den Alltag eingebunden und an Schulen sogar als Zweit- oder Fremdsprache angeboten.

Auf die vergangenen zehn Jahre im „equalizent“ Schulungszentrum zurückblickend bewertet Haider die momentane Lage der Gehörlosen mit fünf von zehn Punkten. „Früher lagen wir bei eins, die Situation war desaströs. Seither haben wir eine gute Entwicklung erlebt“, meint sie. Nach wie vor bräuchte es aber Verbesserungen der Ausbildung und im Bereich des Arbeitsmarktes: „Noch immer kann nicht jeder Gehörlose den Beruf erlernen, den er gerne möchte.“

DIE FURCHE, Donnerstag, 17. Juli 2014


Zur Gebärdensprache vergleiche: http://www.spreadthesign.com

-- Diem Peter, Sonntag, 1. März 2015, 16:34