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Die KI in der Corona-Krise#

Die Rolle der Künstlichen Intelligenz in Zeiten von Massenarbeitslosigkeit und Arbeitszeitdebatte.#


Von der Wiener Zeitung (6. Juni 2020) freundlicherweise zur Verfügung gestellt

von

Johann Čas


Johann Čas ist Senior Researcher am Institut für Technikfolgen-Abschätzung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW)
Johann Čas ist Senior Researcher am Institut für Technikfolgen-Abschätzung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW). Er ist einer der Co-Autoren der jüngst veröffentlichten Schweizer Studie „Wenn Algorithmen für uns entscheiden: Chancen und Risiken der künstlichen Intelligenz“, die auch Arbeitsmarktwirkungen analysiert.
Foto: ÖAW

Der Künstlichen Intelligenz werden große Potenziale zugeschrieben, unser Leben und unser Wirtschaften grundlegend zu verändern. Wenn Daten als das Öl des 21. Jahrhunderts bezeichnet werden, so kann man Künstliche Intelligenz (KI) als eine Technologie verstehen, die diesen Treibstoff effizient verwerten kann. Wie mechanische Motoren körperliche Arbeit in unzähligen Formen unterstützt, verstärkt oder ersetzt haben, wird KI Ähnliches für intellektuelle Tätigkeiten von Menschen leisten.

Erstaunlicherweise werden die möglichen Produktivitätsgewinne überwiegend als Bedrohung für bestehende Arbeitsplätze gesehen und weniger als Chance, Menschen von automatisierter Arbeit zu entlasten. Wenn man berücksichtigt, wie Arbeitsmärkte funktionieren – oder genau genommen: nicht funktionieren –, sind diese Befürchtungen aber durchaus verständlich und berechtigt.

Mit der Corona-Krise ist nun binnen weniger Wochen eine Entwicklung eingetreten, die mit dem Einsatz von KI erst in vielen Jahren befürchtet worden war: Die Arbeitslosenzahlen sind in die Höhe geschnellt und ganze Sektoren weggefallen. Für den besonders betroffenen Bereich Tourismus ist beispielsweise nicht abzusehen, ob je wieder das Vorkrisenniveau erreicht werden wird.

Österreich ist in der glücklichen Lage, nicht nur über ein funktionierendes Gesundheitswesen, sondern auch über ein gutes Sozialsystem zu verfügen. In der jüngsten Vergangenheit zeigt sich auch ein politischer Wille, die sozialen Folgen des Entfalls von Arbeitsmöglichkeiten zu einem guten Teil zu kompensieren. Natürlich gibt es auch viele Lücken und Verbesserungsmöglichkeiten, was aber wirklich fehlt, ist ein Nachdenken über nachhaltige Maßnahmen zur Krisenbewältigung.

Arbeitslosengelder und Programme zu Kurzarbeit – genau genommen auch nur eine privilegierte Form von Teil-Arbeitslosigkeit – sind unverzichtbare Mittel, um die Folgen der Krise auf individueller und volkswirtschaftlicher Ebene abzufedern. Längerfristig werden diese Maßnahmen der Umverteilung aber an ihre Grenzen stoßen, zumindest wenn man gleichzeitig versucht, die Wirtschaft durch Steuererleichterungen anzukurbeln, und nicht berücksichtigt, dass Arbeitslose keine Beiträge zum Sozialsystem leisten können.

Nicht aufs niedrige Zinsniveau verlassen#

Auch Hinweise auf die günstige Finanzierung zusätzlicher Staatsausgaben aufgrund des extrem niedrigen Zinsniveaus lassen jedes langfristige Denken vermissen, jedenfalls wenn man gleichzeitig eine über Anleihenkäufe der EZB zumindest indirekte Staatsfinanzierung ablehnt. Diese stellen nämlich eine der wesentlichen Voraussetzungen für das historisch niedrige Zinsniveau dar. Wenn man auf diese Refinanzierungsmöglichkeiten der Staatshaushalte verzichtet beziehungsweise sie bewusst ablehnt, schneidet man sich gleich zweimal ins eigene Fleisch.

Erstens wird in diesem Fall angesichts der global steigenden Verschuldung das Zinsniveau innerhalb kurzer Zeit, auch für Österreich, steigen, zweitens würden dadurch einige EU-Staaten in den Ruin getrieben und damit die globale Wirtschaftskrise in und durch Europa noch weiter beschleunigt und verschärft werden. Einem „Alles ist möglich“ oder „Koste es, was es wolle“ könnte dann bald ein „Nichts geht mehr“ folgen.

Einen zweiten Krisenbewältigungsversuch gemäß der Devise Austerität würde die EU nicht überstehen. Zur Erinnerung: Von 2008 bis 2018 hat sich Chinas Wirtschaftsleistung in etwa verdoppelt, die der USA ist um ungefähr 50 Prozent gestiegen, während die EU insgesamt gerade dabei war, das Vorkrisenniveau von 2008 wieder zu übersteigen. Die berechtigte Unzufriedenheit der Bevölkerung würde nationalistische Tendenzen weiter verstärken und zu einem Zerfall der EU führen. Selbst wenn es gelingen sollte, sie als politische Einheit aufrechtzuerhalten, würde sie als globaler Player noch mehr in die absolute Bedeutungslosigkeit versinken.

Eine nachhaltige Krisenbewältigung müsste alles daransetzen, einen möglichst großen Anteil der unbedingt notwendigen Umverteilung durch eine fairere Verteilung der Einkommen zu ersetzen. Für den Großteil der Bevölkerung ist Arbeit die primäre Einkommensquelle. Nichts wäre logischer, als die Arbeitszeiten so anzupassen, dass möglichst viele über diese Quelle ihr Leben bestreiten könnten. Zumindest dann, wenn nicht ein neoliberales Unverständnis von Wirtschaft gerade den Arbeitsmarkt von marktwirtschaftlichen Prinzipien ausklammern würde.

Arbeitszeitverkürzung – aber auf sinnvolle Weise#

Die Arbeitszeit und damit auch das Arbeitsangebot scheint in Stein gemeißelt zu sein; über Jahre anhaltende hohe Arbeitslosigkeitsraten werden als anscheinend unveränderbare Fakten akzeptiert. Und damit auch ein permanentes Überangebot an Arbeit, das mit einem ebenso permanenten Druck auf die Löhne, einer vollkommen unnötigen Belastung der Sozialsysteme und berechtigten, aber innovationshemmenden Befürchtungen, durch produktivitätssteigernde technische Innovationen Arbeit und Einkommen zu verlieren, verbunden ist.

Bei einer konkreten Umsetzung einer effizienten und gerechten Gestaltung von Arbeitsmärkten könnte KI in mehrfacher Weise hilfreich sein. Auf Güter- und Finanzmärkten werden Algorithmen standardmäßig eingesetzt, um Angebot und Nachfrage in Einklang zu bringen. Auf Finanzmärkten passiert dies in Mikrosekunden, ohne mögliche negative Konsequenzen auf Realmärkte zu berücksichtigen.

Natürlich sind Arbeitsmärkte nicht mit Finanzmärkten vergleichbar. Menschen können und dürfen hier nicht gleichgesetzt werden; sie können nicht beliebig zwischen Arbeitsplätzen und Tätigkeiten hin- und hergeschoben werden, Qualifikationen für neue Tätigkeiten können nicht innerhalb von Wochen erworben werden. KI könnte aber eingesetzt werden, diese Anpassungsprozesse zu unterstützen, um wirtschaftlichen Bedarf und menschliche Bedürfnisse aufeinander abzustimmen. Für ein ganz zentrales menschliches Bedürfnis, die Gewissheit, auch in turbulenten Zeiten Arbeit und Einkommen zu haben, ist aber vielmehr politischer Wille vonnöten. Fehlende soziale Sicherheit hemmt nicht nur die wirtschaftliche Erholung, sie gefährdet auch den sozialen Zusammenhalt und die Stabilität demokratischer Systeme.

Arbeitslosigkeitsquote als Maastricht-Kriterium#

An Möglichkeiten, die wohl ineffizienteste Form von Arbeitszeitverkürzung, nämlich die über unfreiwillige Arbeitslosigkeit, durch ein System zu ersetzen, welches soziale Sicherheit verspricht und den Weg für eine nachhaltige wirtschaftliche und politische Entwicklung ebnet, mangelt es nicht. Eine naheliegende Option wäre es, die im Vertrag von Maastricht festgelegte Defizitquote um eine entsprechende Arbeitslosigkeitsquote zu erweitern: Sollte die Arbeitslosigkeit über einen längeren Zeitraum über einem Wert von 3 Prozent liegen, müssten die betroffenen Staaten Maßnahmen zu deren Reduzierung ergreifen; in welcher Form, zum Beispiel über Investitionen in den Klimaschutz, Programme zur Ankurbelung der Wirtschaft oder Arbeitszeitverkürzungen, bliebe den einzelnen Staaten überlassen.

Sie könnten diesen Weg auch unabhängig von EU-weiten Vorgaben beschreiten. Natürlich wäre ein koordiniertes, vertraglich fixiertes Vorgehen wesentlich effizienter und wirksamer, um einen gewaltigen Schritt in Richtung einer nachhaltigen Sozialunion zu setzen. Die Entscheidung zwischen Austerität oder Prosperität ist jedenfalls keine Frage der Künstlichen Intelligenz, sondern der menschlichen Vernunft.

Wiener Zeitung, 6. Juni 2020