Ist Schwerhörigkeite ein Nachteil?#
Viele Menschen haben in der Jugend eine Mittelohrentzündung. Wenn diese heftig und eitrig verläuft, kommt es Jahrzehnte später häufig zu einer zunehmenden "Mittelohrschwerhörigkeit": bei dieser funktionieren das Innenohr und alle "dahinter liegenden" Geräusch verarbeitenden Mechanismen normal, aber die Tonweiterleitung vom Trommelfell über die Gehörknöchelchen ("Hammer, Amboss und Steigbügel" - wer erinnert sich nicht an sie aus dem Schulunterricht?) ist weit gehend unterbrochen, die Knöchelchen sind nicht mehr beweglich genug.
Früher gab es nur zwei Alternativen: die Schwerhörigkeit zu akzeptieren, oder durch einen recht diffizilen operativen Eingriff zu versuchen, die Beweglichkeit der Mittelohrknöchelchen wieder herzustellen. Heute gibt es, zumindest, für bis zu mittelschweren Fällen, auch andere Lösungen: ein Hörgerät oder eine Hörbrille. Letztere sieht aus wie eine normale Brille, nur sind die Bügel etwas klobiger, weil sie einen Tonverstärker enthalten: jedes bei der Brille ankommende Geräusch wird verstärkt und wird durch den hinterm Ohr relativ streng am Kopf anliegenden Bügel direkt auf den Knochen übertragen und erreicht so unter Umgehung des Mittelohrs das Innenohr.
Hörbrillen erlauben ein weit gehend unbehindertes normales Leben ohne operativen Eingriff, haben freilich auch einige Nachteile: das Richtungshören ist beeinträchtigt, Telefonieren ist erschwert, man ist gegen Nebengeräusche recht empfindlich und alle heutigen Modelle sind sehr nässeanfällig: kommt man z.B. beim Squashspielen ins Schwitzen, kann es schon passieren, dass sie ein paar Stunden ausfallen, ganz zu schweigen davon, dass sie beim Schwimmen oder im Dampfbad einfach nicht verwendet werden dürfen.
Faszinierend ist aber die Tatsache, dass sie nicht nur ein Hördefizit kompensieren, sondern in einigen Situationen den Benutzer besser stellen als den Normalmenschen! Durch die Lautstärkeregelung kann der Hörbehinderte fallweise besser hören als jemand mit Normalgehör, und durch Abschalten oder Abnehmen der Brille kann der Hörbehinderte lästige Außengeräusche einfach abschalten: in einer Zeit, wo man z.B. in ungünstig gelegenen Zimmern oft wegen des Geräuschpegels kaum schlafen kann, kommt dies manchmal mehr als gelegen!
Hörbehinderte mit einer Hörbrille verfügen sozusagen über ein "Ohrlid": sie können die Ohren vor unwillkommenen Geräuschen schützen, wie die Augenlider dies bei unseren Augen tun.
Die Natur hat uns mit Augenlidern ausgestattet, damit wir (besser) schlafen können; der Luxus von Ohrenlidern hätte aber die Überlebenschancen der Urmenschen zu sehr reduziert: auch im Schlaf musste eine sich nähernde Gefahrenquelle zumindest noch gehört werden!
Heute wünschen wir uns hingegen manchmal ein Ohrenlid (manche stopfen sich ja schon Watte oder "Oropax" in die Ohren, wenn sie Ruhe haben wollen!): wer hat sich nicht schon beim Schlafen, beim Lesen eines Buches in einem Zugabteil, am Strand durch das überlaute Radio des Nachbarn, usw., gestört gefühlt?
Wenn Hörbrillen weiter perfektioniert werden, sodass die oben angeführten Nachteile verschwinden, die Brille sogar noch die Funktion eines Radioempfängers und Telefonhörers mit übernimmt, könnte es geschehen, dass in Zukunft die Mittelohrfunktion bewusst stillgelegt wird, damit man in dieser Lärm geplagten Zeit in den Genuss eines perfekten Ohrlids samt Hörzusatzfunktionen kommen kann?
Dieser Aufsatz ist aus dem Buch "Der Anfang" aus der XPERTEN-Reihe.