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Der Überflieger aus Triest#

Er war ein waghalsiger Spekulant und der vermögendste Österreicher nach dem Ersten Weltkrieg: Nun ist Camillo Castiglioni eine erhellende Biographie gewidmet.#


Von der Wiener Zeitung (Sa./So., 14./15. November 2015) freundlicherweise zur Verfügung gestellt.

Von

Peter Jungwirth


Camillo Castiglioni am Steuer eines BMWs in den 1920er Jahren
Camillo Castiglioni am Steuer eines BMWs in den 1920er Jahren.
© BMW Group Archiv

Die Wirklichkeit, darauf hat Alfred Hitchcock hingewiesen, lässt die Fiktion hinter sich. Und das Leben des Mannes, der nach dem Ersten Weltkrieg blitzschnell zum vermögendsten Österreicher aufstieg, wäre ein sehr guter Beleg für diese Ansicht. Allerdings ist Camillo Castiglioni, dessen Reichtum so märchenhaft wie die Karriere von Grace Kelly war, heute weitgehend vergessen.

Das könnte sich ändern, denn nun ist eine Biographie erschienen, die rund um das faszinierende Leben dieses Magnaten, Mäzens und Luftfahrtpioniers auch ein filmreifes Panorama der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts zeigt.

Im Blick des Kaisers#

Camillo Castiglioni wurde 1879 in Triest geboren, startete seine Laufbahn als Geschäftsmann in Konstantinopel und avancierte danach in Wien, noch bevor er 30 Jahre alt war, zum Direktor der Österreichisch-Amerikanischen Gummiwerke. In die Höhe strebte aber nicht nur seine Karriere, auch er selbst hob bald ab: Die Luftfahrt steckte noch in den Kinderschuhen, die Aeroplane - so nannte man Flugzeuge damals - hatten sich noch nicht gegen die Lenkballone durchgesetzt, als Camillo Castiglioni, gemeinsam mit Ferdinand Porsche, 1909 in einem solchen über die Dächer von Wien flog:

" ...der Motor arbeitet ruhig, die Schraube drehte sich gleichmäßig, wir hatten das Gefühl größter Sicherheit. Und jetzt tauchte der mächtige Stephansdom auf, weit das Gewirr der Häuser überragend. In der Simmeringerstraße sahen wir zahlreiche Menschen stehen und wir erblickten auch die Automobile, in welchen unsere Freunde folgten."

Castiglioni und Porsche überflogen an diesem Tag auch Schloss Schönbrunn, wo ihnen aus "fast allen Fenstern" zugewunken wurde. Auch der Kaiser sah zu ihnen auf, von der Hofburg aus, und schon Minuten nach der Landung telegrafierte er seine Glückwünsche zur erfolgreichen Fahrt des "ersten Militärluftschiffes".

Ein Jahrzehnt nach diesem Tag war das Habsburgerreich Geschichte, und Castiglioni reiste mit dem Salonwagen des letzten österreichischen Kaisers zu seinen Geschäftsterminen in Europa. Den Luxuswaggon und das mit Gemälden Tiepolos ausgestattete Palais in der Prinz-Eugen-Straße hatte er sich als Lieferant für die Kriegsindustrie verdient, unter anderem mit dem Bau von 2200 Militärflugzeugen. Den Plafond seiner Laufbahn hatte Castiglioni aber noch nicht erreicht. Er kaufte bis 1924 auf Kredit ein Unternehmen nach dem anderen, vorwiegend in und rund um die Automobilbranche, und nützte dabei die immer schneller werdende Geldentwertung, die ihm die Zahlung der Restschuld entweder enorm erleichterte - oder abnahm. Als die Inflation durch eine Währungsumstellung endlich gestoppt wurde, war er Herr eines auf Pump erworbenen Imperiums, zu dem unter anderem BMW gehörte. Und er war zur personifizierten Zielscheibe der Kritik an den desaströsen wirtschaftlichen Verhältnissen geworden, zum Inbegriff des Spekulanten, zum Haifisch, zur Krake - unter anderem hatte sich Karl Kraus auf ihn eingeschossen.

Am 12. März 1924 - jenem Tag, an dem, auf dem Landweg von Monaco aus kommend, der New Yorker Bankier J.P. Morgan in Paris eintraf - endete der Steigflug von Camillo Castiglioni. Er hatte in großem Stil auf den Fall des Franc gesetzt. Und er war damit Morgan - der durch gezielte Falschmeldungen die Spekulation beschleunigt hatte, um dann die angeschlagene Währung mit einem Kredit von 100 Millionen Dollar zu retten - in die Falle gegangen. Viele europäische Spekulanten gingen damals sofort bankrott, und auch für Castiglioni begann sich "eine gnadenlose Abwärtsspirale zu drehen" - die Frage schien nur, wann auch er, der Pionier der Aviatik, auf dem Boden der wirtschaftlichen Tatsachen aufschlagen würde.

Geschickter Netzwerker#

Allerdings gelang es Castiglioni, der zeitlebens ein geschickter Netzwerker war, den senkrechten Absturzkurs zuerst zu einem steilen Sturzflug und dann - nach dem Zweiten Weltkrieg - zu einem stetigen Sinkflug soweit zu verlangsamen, dass er 33 Jahre nach der Niederlage gegen J.P. Morgan zwar vereinsamt und vergessen, aber immer noch wohlhabend starb. Der deutsche Journalist und Publizist Reinhard Schlüter hat nun das außergewöhnliche Leben von Camillo Castiglioni aufgezeichnet. Eine heikle Aufgabe, denn der Sohn eines Rabbiners wurde zuerst "von Wirtschaft, Politik und einem Teil der Presse wie ein Monarch hofiert", und dann, obwohl er zum evangelischen Glauben konvertiert war, erbarmungslos verfolgt. Der "Jude Castiglioni" überlebte den Zweiten Weltkrieg nur, weil er sich, als Mönch verkleidet, rechtzeitig in der ältesten Republik der Welt, in San Marino, verstecken konnte.

Schlüter gelingt das Kunststück, geerdet über den Mann zu schreiben, den die einen, wie etwa der Flugzeugkonstrukteur Ernst Heinkel, buchstäblich in den Himmel hoben, während viele andere ihn gerne in die Hölle geschickt hätten. Und sein Bild von Castiglioni wirkt vorurteilsfrei und lebendig, weil es Originaldokumente ausführlich wiedergibt: etwa eine zwei Seiten lange Analyse der juristischen und wirtschaftlichen Probleme Casti-glionis, die Frank Fassland 1925 für die Berliner "Weltbühne" schrieb.

Diese gibt dann auch Orientierung über den angeblich fehlenden Charakter des "jüdischen Spekulanten": "Castiglioni ist übrigens, wenn man so sagen darf, seinen Gläubigern als aufrechter Charakter entgegengetreten, hat nur Aufschub, keinen Nachlass verlangt, und es sieht so aus, als ob er aus seinen Schwierigkeiten kein Geschäft machen wollte." Ob auch Karl Kraus dieses sehr freundliche Zeugnis unterschrieben hätte, sei dahingestellt.

Kunst-Mäzen#

Schlüters Aufmerksamkeit gilt sinnvollerweise in erster Linie dem unternehmerischen Wirken, aber er zeigt Castiglioni auch in seiner Rolle als Kulturmensch und Mäzen - der Überflieger aus Triest war mit Hugo von Hofmannsthal eng befreundet und hat Max Reinhardt das Theater in der Josefstadt finanziert.

Dezent und mit Blick fürs Detail wird auch das Privatleben behandelt. Dass Castiglionis sehr junge Frau schließlich ohne ihn in die USA ging, um dort ihre am Hofburgtheater begonnene Karriere in Hollywood fortzusetzen, rundet das Bild eines einst märchenhaft reichen Mannes, der sich verspekuliert hat, sehr gut ab. Ein Puzzlestück, das die Phantasie vielleicht beflügelt und an den Wendepunkt dieser Lebensgeschichte erinnert, sei noch erwähnt: nämlich wie Iphigenie Castiglioni Grace Kelly traf. Sie spielte wie diese in Hitchcocks Thriller "Das Fenster zum Hof"...

Wiener Zeitung, Sa./So., 14./15. November 2015