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Spitzer Schrei in Grabesruh’ #

Der Johnsbacher Bergsteigerfriedhof erzählt die tragischen Kapitel der Wiener Kletterschule. Ein Besuch.#


Von der Wiener Zeitung (30. Oktober 2022) freundlicherweise zur Verfügung gestellt.

Von

Wolfgang Machreich


Der größte Bergsteigerfriedhof Österreichs liegt in Johnsbach.
Der größte Bergsteigerfriedhof Österreichs liegt in Johnsbach.
Foto: © Machreich

Der Tod ist der gleiche, die Trauer auch - was die am Bergsteigerfriedhof Johnsbach Begrabenen von anderen indes unterscheidet, ist die Art und Weise, wie sie starben und an diesen Ort im steirischen Ennstal kamen: abgestürzt über die Steilwände der Gesäuse-Berge - nachdem ein Felsgriff ausgebrochen war, ihr Seil gerissen ist oder der Kletterhaken nicht hielt; oder vom Blitzschlag getötet, vom Wettersturz überrascht und im Schneehagel erfroren.

So wie der in Grab 57 an der südlichen Friedhofsmauer bestattete Helmut Baar. Der 19 Jahre alte Schlossergehilfe aus Leoben stieg am 5. Juni 1949 mit einem Freund in die Nordkante hinauf zum Großen Ödstein ein. Eine Kaltfront stoppte die beiden. "Dann war die Hölle los", wählte der Alpinschriftsteller Karl Lukan ein infernalisches Bild, um diesen Wettersturz zu beschreiben. Der Wiener kletterte mit Freunden an diesem Pfingstsonntag die gleiche Route wie Baar. "Es war so, als ob sich der Himmel geöffnet hätte, um uns mit Eis und Schnee zu vernichten. Kaum zwei Meter weit sah man durch den wüsten eisigen Vorhang."

Lukan und Gefährten kämpften sich im Schneesturm bis zum Gipfel, kamen heil hinunter. Die beiden Leobener wollten eine Wetterbesserung abwarten, schreibt er, "sie wußten nicht, daß auf einen von ihnen schon der Tod wartete ..." Nach einer Biwaknacht stürzte Baar beim Rückzug ab. Drei weitere Tote und einige Verletzte waren an diesem Pfingstwochenende aus den Gesäuse-Felsen zu bergen.

Todessturz-Stakkato#

Von Baars Grab 57 schaut man steil hinauf zu seinem damaligen Gipfelziel, dem Großen Ödstein. Insgesamt wurden 83 Alpinisten in Johnsbach begraben, seit 1885 Einheimische die ersten Toten aus den Felsfluchten des Admonter Reichensteins heruntertrugen und sie neben den Gräbern der Johnsbacher Bauern begruben. Der Ennstaler Historiker und Gesäuse-Chronist Josef Hasitschka erstellte für sein Buch zum Bergsteigerfriedhof eine akribisch recherchierte Totenliste.

Zur vorvorigen Jahrhundertwende zählte er sieben begrabene Bergtouristen; bis 1918 stieg die Zahl auf zwanzig; zehn Jahre später waren es bereits 48 Kletterer. Der Grund für dieses Todessturz-Stakkato war, dass die "Wiener Schule", worauf noch zurückzukommen ist, ihren Klettergarten ins Gesäuse verlegte. Mit Ende des Zweiten Weltkriegs gab es 70 Bergtote im lediglich gut 150 Einwohner zählenden Bergsteigerdorf. In den folgenden Jahrzehnten kam noch ein gutes Dutzend dazu, darunter der Schlosser Helmut Baar. Spätere Totgeborgene wurden aufgrund besserer Transportmöglichkeiten meist in die Herkunftsorte überstellt. Einige Gräber hat man aufgelöst. Mit 49 Gräbern und den darin bestatteten 59 Bergtoten liegt im Gesäuse aber nach wie vor der größte Bergsteigerfriedhof Österreichs - und einer der größten der Welt.

Auch in Heiligenblut oder Kals unter den Nord- und Südabstürzen des Großglockners liegen Bergsteiger begraben, erinnern dicke metallene Sterbebücher an ihre Namen und Bergfahrten. Der Friedhof Zermatt im Schweizer Wallis ist die letzte Ruhestätte der ersten und berühmtesten Opfer des Alpinismus, nachdem der Triumph der Erstbesteigung des Matterhorns 1865 in eine Absturztragödie mit vier Toten mündete. Und mit Chamonix, Sulden, Pontresina, oder Štrbské Pleso in der Hohen Tatra, um nur die bekanntesten zu nennen, gibt es noch weitere Orte am Fuße berühmter Berge, auf deren Totenackern Alpinisten ruhen.

In seiner Abgeschiedenheit vom Jetset des Massentourismus und fern vom Modealpinismus ist Johnsbach jedoch in dieser illustren Runde der Alpin-Friedhöfe eine Ausnahme. Die Exklusivität des Bergsteigerfriedhofs Johnsbach liegt nicht nur in der rührigen Pflege und Bewahrung dieses kulturellen Kleinods. Die Grabsteine rund um die Pfarrkirche St. Aegyd öffnen weit über diese schmucke Restaurierung hinaus ein Fenster in die Zeit vor hundert Jahren und ermöglichen einen raren Blick auf Lebenslust-Strategien, mit denen ein Teil der damaligen Jugend auf die Krisen-Kaskade ihrer Zeit reagierte.

"Der Wilde Kaiser ist die hohe Schule des Bergsteigens, das Gesäuse die Universität." Die Zuschreibung stammt vom Wiener Journalisten und Schriftsteller Kurt Maix. Der war mit Geburtsjahr 1907 zu jung, um die ersten Erfolgssemester an der Gesäuse-Kletteruniversität selbst miterlebt zu haben, als "Tatbergsteiger" der nächsten Generation ist er aber ein sehr guter Gewährsmann für den Studienplan und den dahinter wehenden Geist der "Wiener Schule" des Bergsteigens.

"By fair means"-Ideale#

In seinem Buch "Berge - Ewiges Abenteuer" beschreibt Maix die lange währende Tradition des Wiener Bergsteigens: "Irgendein Spötter sagte einmal: ‚In punkto Rückschrittlichkeit in der Alpintechnik ist Wien nur von den Engländern geschlagen worden.‘ Das soll hier durchaus nicht als Manko gewertet werden. Eher als Anerkennung."

Die große Gegenspielerin der Wiener Schule war die Münchener Bergsteigerschule. Während die Bayern im "lauten, leuchtenden Wilden Kaisergebirge" ihre Kletterseminare abhielten, schulte sich die Wiener Bergsteigerelite "im düsteren Gesäuse, in den Dachsteinwänden, im Urgestein". Und während München technischen Neuerungen offenstand, mit Mauerhaken und Kletterhammer experimentierte oder zehnzackige Steigeisen ausprobierte, hielt Wien die von den britischen Alpin-Traditionalisten ausgerufenen "By fair means"-Ideale hoch.

"Das Sonderbare an der Wiener Schule aber war", wunderte sich Maix: "Selbst die revolutionärste Jugend dachte nicht daran, die alpinen Leistungen durch künstliche Hilfsmittel höherzuschrauben. Mehr Risiko, ausgefeiltere Klettertechnik, mit Händen und Füßen, mit Armen und Beinen versteht sich - das war die Parole."

Dieser folgend und als Alleingeher das Risiko auf die Spitze treibend, liegt im Johnsbacher Grab 69 der Wiener Galanterist Karl Tauer bestattet. Am 15. August 1926 kletterte der 25-Jährige die Roßkuppenkante, die damals schwierigste Gesäusetour. Chronist Hasitschka vermutet aufgrund eines damaligen Zeitungsberichts, dass Tauer als Erster eine Variante klettern wollte und ihm diese Risskletterei zum Verhängnis wurde. So wie die Schlüsselstelle der Pichl-Route in der Hochtor-Nordwand das in Grab 81 bestattete Wiener Autoschlosser-Trio Leopold Potetz, Leopold Huspek und Karl Bauer 250 Meter tief abstürzen ließ. Auf ihrem Grabstein steht: "Ein letztes Berg Frei von allen, die euch liebten und denen ihr unvergessen bleibt."

Gelehrt und geübt wurde die Klettermaxime der Wiener Schule in der Haindlkarhütte, einer in den 1920ern errichteten Expositur der Bergsteiger-Uni im Gesäuse. Hoch her ging es laut zahlreichen Überlieferungen in der Haindlkarhüte immer wieder, und das nicht nur aufgrund ihrer ausgesetzten Lage, samt Tiefblick auf die 500 Höhenmeter unter ihr sausende Enns.

Die Stammgäste des Felsennests waren meist arme, da arbeitslose Wiener Schlucker. Mit ihrer Lebenslust und Kletterkunst schafften sie es aber, hoch über dem Ennstal einen Hauch der Goldenen Zwanziger und einen Ideensturm der Roaring Twenties zu zaubern. Den sportlichen Höhepunkt bildete eine eigene "Haindlkarolympiade", und die Fotos ihrer Passionsspiele in den Latschenfeldern zeichnen das Bild einer künstlerisch wie ästhetisch anspruchsvollen Produktion.

Der akademische Maler Gustav Jahn ist der bekannteste Tote am Friedhof Johnsbach. Seine Kletterleidenschaft, die er mit einigen Erstbegehungen krönte, ergänzte sich mit der künstlerischen Spezialisierung auf Hochgebirgslandschaften und Genrebilder aus den Bergen. Als Postkarten, Plakate, Katalogsujets oder Schulwandtafeln fand seine Kunst monarchieweit Anerkennung. Im Alter von 40 Jahren stürzte er am 17. August 1919 mit einem Gefährten an der schwierigsten Stelle der Ödsteinkante ab.

"Du darfst, was du vermagst! Dich selbst überschätzen ist das einzige, das Urlaster", mahnte der Jahn sicherlich bestens bekannte Eugen Guido Lammer, denn "benützt der böse Zufall das kleinste Versäumnis des Bergsteigers, so verliert dieser sein Leben". Der aus Rosenburg am Kamp stammende Deutschprofessor Lammer war um 1900 herum der Wortführer der Alleingänger und Führerlosen. Als solches Idol der Wiener Schule, propagierte er das Gefahrenbergsteigen, um des "Nervenpfeffers" willen.

Triumph und Tragödie#

Ein anderer Extravaganter des Alpinismus, Reinhold Messner, sagte über den alpinen Feuerkopf: "Eugen Guido Lammer ging nicht in die Berge um der Berge willen, sondern um seinetwillen. Ihn interessierte der Mensch im Zustand der Angst, des Ausgesetztseins, der Erschöpfung, der tätige Mensch vor allem angesichts einer unausweichlichen Gefahr." Der Grabstein des Ausnahmekönners Fritz Schmid. - © Machreich

Dass auch einem Spitzenbergsteiger Ausgesetztheit und Erschöpfung zu viel werden können, erzählt das Grab 63: In der Wiener Klettergilde galt Fritz Schmid als Ausnahmekönner. Zu Pfingsten 1936 nahm er zwei Freunde mit auf eine für ihn unter normalen Bedingungen leichte Tour. Doch so wie Jahre später den Schlosser Helmut Baar überraschte auch Schmid ein Schneesturm. In der zweiten Biwaknacht starben er und seine Begleiterin, der andere Gefährte konnte sich mit schweren Erfrierungen ins Tal retten.

Die Spitze des Grabsteins für "unseren unvergesslichen Sohn Fritz" leitet über in die steil nach oben strebende Kirchenfassade von St. Aegyd. Ein "spitzer Schrei der Erde gegen den Himmel" nannte der französische Extrembergsteiger, Schriftsteller, Fotograf und Cineast Gaston Rébuffat die Berge. Spitzes Höherstemmen der Erdlinge Richtung Himmel könnte man zum Klettern im Gesäuse und anderswo sagen.

Am Bergfriedhof von Biollay, vor dem Mont Blanc, liegt Edward Whymper, Erstbesteiger des Matterhorns, begraben. Triumph und Tragödie des Kletterns kannte er nur zu gut. Als Lebensresümee vor seinem Sterben nicht am Berg, sondern als alter Mann im Tal gab er den weisen Rat: "Ich habe Freuden genossen, die zu groß sind, um in Worten beschrieben werden zu können, und habe Kummer gehabt, an den ich nicht gern denke, und mit diesen Erfahrungen vor Augen sage ich: Ersteige die Hochalpen, wenn du willst, aber vergiss nie, dass Mut und Kraft ohne Klugheit nichts sind, dass eine augenblickliche Nachlässigkeit das Glück eines ganzen Lebens zerstören kann."

Wolfgang Machreich lebt als freier Autor und Journalist in Wien.

Wiener Zeitung, 30. Oktober 2022

Lesen Sie mehr über Johnsbach im Gesäuse in diesem NID Buch#


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