Steinzeitkost rasch verputzt#
Dass der Mensch dazu prädisponiert ist, leicht Fett anzusetzen, ist zu bezweifeln. Die Evolution hat unser Essverhalten geprägt, nicht steinzeitliche Gene.#
Mit freundlicher Genehmigung übernommen aus der Wiener Zeitung (Donnerstag, 23. Jänner 2014)
Von
Frank Ufen
Hamburg. Irgendwann gegen Ende der letzten Eiszeit - vor etwa 10.000 bis 13.000 Jahren - haben Menschen damit begonnen, ihr Wildbeuterleben aufzugeben, sesshaft zu werden und Ackerbau und Viehzucht zu betreiben. Angeblich hat ihnen diese grundlegende Innovation ermöglicht, sich fortan ziemlich regelmäßig mit Grundnahrungsmitteln zu versorgen. Die Jäger und Sammler hingegen hätten immer wieder Hungersnöte überstehen müssen, und weil sie außerstande gewesen wären, Vorräte anzulegen, hätten sie jede Gelegenheit genutzt, um sich den Bauch vollzuschlagen.
In diesen unberechenbaren Verhältnissen - wird unermüdlich behauptet - hätten jene Individuen die besten Chancen gehabt, am Leben zu bleiben und viele Nachkommen in die Welt zu setzen, die die Nahrung am effizientesten verwerten und im Körper umfangreiche Fettdepots anlegen konnten. Daher wären wir heute noch genetisch dazu prädisponiert, leicht Fett anzusetzen und an Diabetes zu erkranken.
Diese Hypothese klingt plausibel, lässt sich aber in Wahrheit nicht aufrechterhalten. Zu diesem Ergebnis gelangten die Anthropologin Colette Berbesque und ihre Mitarbeiter von der University of Roehampton in London. Sie berichten im Fachjournal "Biology Letters". Colette Berbesque hat ethnografische Forschungsberichte, die zwischen der Mitte des 19. und dem Anfang des 20. Jahrhunderts entstanden sind, eingehend analysiert. Anhand dieser Materialien ließ sich der Ernährungszustand der Bevölkerung von 186 präindustriellen Gesellschaften rekonstruieren. 36 davon waren Wildbeuter-Gesellschaften, in den übrigen betrieb man Formen der Viehzucht, des Acker- oder Gartenbaus.
Nachdem Berbesque sämtliche Daten ausgewertet und die Auswirkungen unterschiedlicher klimatischer Bedingungen herausgerechnet hatte, erhielt sie einen überraschend eindeutigen Befund. Mit der einzigen Ausnahme derjenigen aus arktischen und subarktischen Regionen hatten alle Jäger und Sammler erheblich seltener unter Hungersnöten gelitten als die Angehörigen der traditionellen agrarischen Gesellschaften. "In guten Jahren", schreiben Berbesque und ihre Kollegen, "können in Agrargesellschaften mehr Kalorien pro Flächeneinheit erwirtschaftet werden als von Jägern und Sammlern. Doch Jäger und Sammler brauchen bloß weiterzuziehen, wenn es zu einer Dürre oder Überschwemmung kommt - was der Bevölkerung einer bäuerlichen Gesellschaft schwerfällt."
Ungeheure Fettpolster#
Berbesque vermutet, dass es für das, wofür steinzeitliche Gene verantwortlich sein sollen, eine simple Erklärung gibt: Die Evolution hat dem Menschen eine Vorliebe für fett- und kohlenhydratreiche Kost eingepflanzt, die erst seit jüngster Zeit im Überfluss vorhanden ist. Doch in den Tropen, wo der Mensch herstammt, verderben Nahrungsmittel in kürzester Zeit. Also war es in der Altsteinzeit das Sinnvollste, sie sich sofort und restlos einzuverleiben.
Die Physiologin Susanne Klaus vom Deutschen Institut für Ernährungsforschung in Potsdam-Rehbrücke bestätigt die Anthropologen aus London. "Die Hypothese, dass steinzeitliche Gene daran schuld sein sollen, dass wir für Fettsucht und andere Zivilisationskrankheiten besonders anfällig sind, geistert schon seit Jahrzehnten durch die Medien, aber im Wissenschaftsbetrieb war sie von Anfang an heftig umstritten. Denn kein Mensch weiß, wie die Jäger und Sammler der Altsteinzeit gelebt haben. Doch diese Hypothese unterstellt, dass die ökologischen Verhältnisse in der Altsteinzeit sich im Verlauf von hunderttausenden von Jahren nicht wesentlich verändert haben und dass es noch dazu von Region zu Region und von Klimazone zu Klimazone kaum Unterschiede gab.
Außerdem: Wenn unser Essverhalten tatsächlich in solchem Maße von Genen aus der Steinzeit gesteuert wird, müsste heute fast jeder ungeheure Fettpolster mit sich herumschleppen. Im Übrigen hat die durchschnittliche Körpergröße nach Einführung der Landwirtschaft zunächst nicht etwa zugenommen, sondern abgenommen. Das lässt nicht auf eine bessere Ernährungslage schließen. Das alles spricht dafür, dass Colette Berbesque recht hat."