Wittgensteins anderer Neffe#
Der Lunzer Forstmeister Hans Peter Kupelwieser entstammt einer traditionsreichen Familie – und hat daher viel zu erzählen.#
Mit freundlicher Genehmigung aus der Wiener Zeitung (Sa./So., 20./21.2.2010)
von
Birgit Schwaner
Eltern spekulieren öfters auf geniale Sprösslinge, die den Familiennamen in der Geschichte (bzw. in den Google- Charts) verankern – wobei selbst kühne Wünsche sich nie so erfüllen wie vorgestellt. Doch Karl Wittgenstein (1847–1913) war kein Vater, der wünschte. Er erwartete. Zum Beispiel, dass seine Söhne in seine Fußstapfen traten und zunutzen des von ihm aufgebauten Stahlimperiums lebten – womit er zwei von ihnen in den Selbstmord trieb.
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts war Karl Wittgenstein einer der reichsten Männer der Monarchie; den Hang zum Selbstzweifel besaß er nicht. Allerdings blieben die zwei jüngsten seiner acht Kinder, die Buben Paul und Ludwig, nach den Selbstmorden ihrer Brüder von rigorosen väterlichen Erwartungen unbehelligt. Und so wurde Paul, der zu Beginn des Ersten Weltkriegs einen Arm verlor, später ein bekannter Pianist.
Und Ludwig – man weiß es – machte den Familiennamen weltberühmt. Wer heute „Wittgenstein“ sagt, meint ihn: einen der bedeutendsten Philosophen des 20. Jahrhunderts – und ein exzentrisches Genie, das in einer nicht minder exzentrischen Familie aufwuchs. (Die großteils ebenso wenig von seiner Philosophie hielt wie vom Klavierspiel seines Bruders.) „Die Wittgensteins“ waren in den Jahrzehnten um 1900 eine verzweigte Großfamilie. Sie lebten im leistungsstarken sozialen Netz des Wiener Großbürgertums, das um 1900 rund 200 Familien umfasste. Auch Karl Wittgenstein wurde bezeichnenderweise von einem Verwandten auf die Erfolgsschiene gesetzt: vom Anwalt Karl Kupelwieser, dem Mann seiner Schwester Bertha, Sohn des einst mit Schubert befreundeten Malers Leopold Kupelwieser.
Eine „Seilschaft“#
Das war 1872: Der junge Wittgenstein hatte bisher nach einem erfolglosen Versuch, in den USA Fuß zu fassen, in Österreich ein Ingenieurstudium begonnen, nach einem Jahr abgebrochen und u.a. als Konstruktionszeichner gearbeitet. Jetzt wird er durch Karl Kupelwiesers Vermittlung Ingenieur- Assistent im Neufeldt-Schoeller’schen Stahlwerk in Niederösterreich, wo Kupelwiesers Bruder Paul in leitender Funktion tätig ist. Wittgenstein zeichnet Konstruktionspläne für die Teplitzer Walzwerke, die Schienen für den boomenden Eisenbahnbau produzieren sollen. Ab 1873 arbeitet er selbst im böhmischen Kurort Teplitz (heute: Teplice).
Seine Karriere bleibt fortan eng mit den Kupelwiesers verbunden: Als Paul Kupelwieser nach einem Streit mit dem Verwaltungsrat die Direktion der Teplitzer Werke niederlegt, kündigt der loyale Wittgenstein ebenfalls. Und als sich das Blatt für Kupelwieser wendet und er 1877 die Leitung des Verwaltungsrats übernimmt, macht er Wittgenstein zum Direktor der Teplitzer Werke – mit Sitz in Wien. Als Wittgenstein in den nächsten Jahren ein österreichisches Eisenkartell aufbaut und sich 1884 mit Übernahme der Böhmischen Montangesellschaft die Kontrolle über die gesamte Eisenindustrie des Landes verschafft, gehören Paul und Karl Kupelwieser zu seinen Geschäftspartnern, zur sogenannten „Wittgenstein Gruppe“.
Dem großbürgerlich-herrschaftlichen Lebensstil der Zweiten Gesellschaft gemäß erwirbt Karl Wittgenstein 3300 Hektar Wald bei Hohenberg, in der Nähe von Lilienfeld, wo er eine Jagdhütte und ein Sommerfrischendomizil bauen lässt. Seinen Schwager Kupelwieser macht er auf ein anderes Grundstück aufmerksam, das Gut Seehof-Hirschtal am Lunzer See, wozu auch Schloss Seehof gehört. Karl Kupelwieser kaufte 1897 das Schloss von seinem Vorbesitzer Graf Gabor Festetitcs, ließ es umbauen und erwarb zusätzlich die Waldgrundstücke einiger Bergbauern. Er ließ Seehof, wie es heißt, „zum Mustergut ausbauen“, mit Haflinger-Gestüt und Forellenzucht, und gründete mehrere soziale und naturwissenschaftlich orientierte Stiftungen, darunter 1905 vor allem die bis vor wenigen Jahren existierende „Biologische Station Lunz“, die bis zur Schließung 2003 zur österreichischen Akademie der Wissenschaften gehörte und in einem Pförtnerhaus des Schlosses untergebracht war. Kupelwiesers Sohn Hans, ein studierter Zoologe, leitete die Station von 1908 bis 1924.
Dessen Sohn, Forstmeister Hans Peter Kupelwieser, lebt heute noch in Schloss Seehof. Herr Kupelwieser, Jahrgang 1922, ist, so gesehen, ein Großneffe Karl Wittgensteins oder: Ludwig Wittgensteins Neffe zweiten Grades. (Über Paul, einen anderen Neffen des Philosophen, hat Thomas Bernhard die Erzählung „Wittgensteins Neffe“ geschrieben.) Dem Philosophen oder seinen Geschwistern ist er jedoch nie begegnet – dafür aber deren Tanten, den Schwestern seiner Großmutter; unter ihnen Ludwig Wittgensteins Lieblingstante Clara, die in Laxenburg wohnte.
Vor allem aber ist der Forstmeister ein wacher Zeitzeuge. Als die 85-jährige Clara 1935 starb, war er 14 Jahre alt und Österreich noch drei Jahre vom „Anschluss“ entfernt. Hans Peter Kupelwieser lebte damals mit seinen Eltern und Schwestern auf dem familieneigenen Gut Kyrnberg bei St. Pölten, wohin man – nach der Wirtschaftskrise 1929 – nach einigen Jahren in Wien zurück übersiedelt war: „Das Gut Kyrnberg, wo ich geboren bin und zur Schule ging, hat meine Großmutter Bertha (Wittgenstein) auf eigene Rechnung erworben. Als sie 1909 bei einem Unfall ums Leben kam, sagte mein Großvater zu seinen Kindern: ‚Ich lasse euch das Erbe, ihr müsst mir aber die Verwaltung anvertrauen.’ Und das war auch so.“ Bertha, eine wirtschaftlich denkende Dame, produzierte übrigens ihrerzeit auf dem Gut zeitweilig einen Gervais-Frischkäse. Der Hang zum Ländlichen mochte dieser Wittgenstein-Generation durch ihre Erziehung vermittelt worden sein: „ . . . die Tante Clara hat immer erzählt, dass ihre Eltern – der Hermann Wittgenstein und seine Frau Fanny – jedem der elf Kinder eine eigene Kuh zu betreuen gaben; man glaubte damals, dass kuhwarme Milch besonders gesundheitsfördernd für Kinder ist, und bevor sie in die Schule gingen, musste jedes von ihnen eine Kuh melken und die kuhwarme Milch trinken.“
Herr Kupelwieser lacht. Er ist ein großer, ein wenig gebeugter Mann mit klugen Augen. Wir sitzen uns in seinem Büro – dem Büro der Kupelwieser’schen Forstverwaltung – gegenüber, in einem Seitentrakt von Schloss Seehof, in Lunz am See.
Und dann weiß er viel zu erzählen, aus den Jahren ab 1938 – als man es einem wie ihm hierzulande unmöglich machte zu überleben (was ihm dennoch gelang). Dies nicht nur wegen der jüdischen Herkunft der Wittgensteins. Auch Kupelwiesers Mutter Polja – Pauline – war Jüdin, die Tochter eines Kaufmanns aus Bessarabien (heute: Moldau und z.T. Ukraine), die wie ihre beiden Brüder aus dem zaristischen Russland aus auswanderten, wo es für Juden einen Numerus clausus beim Gymnasiums- und Universitätsbesuch gab.
Nach Besuch eines Dresdner Mädchenpensionats studierte sie eine Zeit lang in Leipzig Biologie, als eine von noch wenigen Studentinnen um 1900; mit 26 Jahren heiratete sie den gleichaltrigen Hans Kupelwieser. Der Trauung der beiden blieb übrigens, angefangen bei seinen Eltern, die ganze Familie des Bräutigams fern, da einfach „niemand wusste, wie man sich beim Standesamt benehmen muss“.
Wechselfälle des Lebens#
In München ließen sich die Eltern Kupelwieser 1912 von Paul Ludwig Trost, dem späteren „Baumeister des Führers“, eine Villa bauen, wo sie bis 1914 wohnten, als Hans Kupelwieser als Reserveoffizier einberufen wurde. Auf München folgte Gut Kyrnberg, dann Wien. Hier gingen Herrn Kupelwiesers Schwestern in den 20er Jahren mit der Tochter des Stadtrats Hugo Breitner zur Schule. 1932 hieß es dann wieder Kyrnberg.
Um das Gut Seehof in Lunz, dessen Obsorge Herrn Kupelwiesers Eltern ebenso zugefallen war, besser zu erhalten, begann sein Vater Holzhäuser herzustellen – eher erfolglos. Und dann kamen der Austrofaschismus und der Nationalsozialismus. Die Regierungswechsel erlebte Herr Kupelwieser als Jugendlicher zunächst in Form des Lehrerwechsels am St. Pöltner Gymnasium: Aufs Land wurden politisch unliebsame Lehrer versetzt; also sei er im Ständestaat u.a. von nationalsozialistisch orientierten Lehrern unterrichtet worden, in der ersten Zeit des Nationalsozialismus dafür von Sozialisten.
Herr Kupelwieser steht mit Schulkollegen Spalier, als der „Führer“ in St. Pölten ankommt, er weiß vom St. Pöltner Hotel Bittner zu erzählen, wo Hitler eine Jause nahm und die Hotelchefin, Frau Caroline Bittner, das Handtuch, das er benutzte, an sich nahm – um es bis Kriegsende als Reliquie in einer Glasvitrine im Treppenhaus auszustellen.
Eine spezielle Erfahrung machte eine seiner Schwestern: „Meine mittlere Schwester hatte 1937 maturiert und ist dann aus lauter Begeisterung für die Landwirtschaft in eine Bäuerinnenschule am Grabner Hof bei Admont gegangen, gerade in dem Winter, als der ‚Umbruch’ war (frühere Bezeichnung des ‚Anschlusses‘, Anm.), und da war ein NS-Gaumaler, der sollte Bauerntöchter malen, die besonders ‚nordisch‘ ausschauten und da hat er meine Schwester erwischt“, erzählt Herr Kupelwieser lachend. „Und die sind dann alle miteinander in steirischen Dirndln zum Berghof, zum Hitler gefahren. Der Hitler wurde mit seinem Hut und in Uniform inmitten der Mädchengruppe fotografiert. Meine Mutter, die eben eine sehr Tapfere war, hat anschließend meiner Schwester gesagt: ‚So, der hat dir die Hand gedrückt? Jetzt darfst du dir die Hand nicht mehr waschen.’“
Die junge Frau halb jüdischer Herkunft, die als typische „Arierin“ vogeführt wird – das ist ein typisches Detail, das den Rassenwahn enttarnt. Ein weiteres, die Geldgier offenbarend: In Wien bemühen sich etwa zur gleichen Zeit Ludwig Wittgensteins Schwestern Hermine und Margarete (Stonborough) quasi um eine „Arisierung“ ihres jüdischen Großvaters Hermann Wittgenstein, dessen Geburtsurkunde verschollen ist. Ein Ansuchen auf „arische Behandlung“ war bereits abgelehnt worden (woraufhin Paul ins Exil ging), der Versuch, sich gefälschte jugoslawische Pässe zu beschaffen, gescheitert.
Für die „Zuteilung der Mischlingseigenschaft“ erpressen die Nazibehörden von ihnen schließlich rund 1,8 Millionen Schweizer Franken (errechnet von der Zeithistorikerin Sophie Lille).
Auch Hans Peter Kupelwieser, der – nach dem Tod des Vaters inzwischen mit seiner Mutter in Schloss Seehof lebt – erhält eine amtliche Mitteilung über den nunmehr als arisch geltenden Urgroßvater Wittgenstein. Die per se allerdings wenig genützt hätte. Man kann es im Grunde als Wunder betrachten, dass die beiden den Nationalsozialismus in Lunz überlebten – ohne sich im Schloss zu verstecken.
Sie schreiben Bittgesuche an die Behörden. Erleben, wie ein Cousin, der es wagt, als Einziger bei der Volksabstimmung offen gegen Hitler zu stimmen, abgeholt, „in einem Triumphzug“ durch den Ort geführt und ins Gefängnis nach Scheibbs verbracht wird. Und haben wahrscheinlich, Ironie der Geschichte, einen nationalsozialistischen Beschützer. Man weiß es nicht genau, doch der nationalsozialistische Sohn eines Wissenschafters der Biologischen Station „war dann mit einer ebenso NS-begeisterten Ärztin verheiratet, deren Mutter von einem polnischen Aristokraten geschieden und mit dem Bruder von dem SS-Kaltenbrunner (Ernst Kaltenbrunner, SS-Chef Österreichs, Anm.) verbandelt war“, erzählt Herr Kupelwieser, und betont das Wort „vermuten“, als er fortfährt: „Wir vermuten, dass über diese ‚Kette’ die SS bewogen wurde: Die Kupelwiesers in Lunz, lasst Sie in Ruh. – Ja, es war ganz gefährlich. Mir hat, Jahre später, ein ehemaliger Hilfsgendarm gesagt: ‚Wissen Sie, wie nah es dran war, dass man Sie abgeholt hätte?‘“.
Ein großer Teil der Verwandtschaft wurde ermordet. Der Forstmeister wechselt das Thema. In seinem Fotoalben gibt es noch Jugendbilder von Wittgensteins Mutter, in seinen Erinnerungen noch unzählige Geschichten, die die Geschichte Österreichs im 20. Jahrhundert spiegeln – im „Kleinen“, sprich Familiären. Wo sonst?
Birgit Schwaner, geboren 1960, lebt als Schriftstellerin und Journalistin in Wien. 2008 erschien ihr Buch „Die Wittgensteins. Kunst und Kalkül. Porträt einer Familie“ (Metro Verlag, Wien).