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kommen? Kommen Sie doch!« K. versuchte, darauf achtzugeben, was der
Direktor-Stellvertreter sagte. Es war nicht unwichtig für ihn, denn diese
Einladung des Direktor-Stellvertreters, mit dem er sich niemals sehr gut
vertragen hatte, bedeutete einen Versöhnungsversuch von dessen Seite und
zeigte, wie wichtig K. in der Bank geworden war und wie wertvoll seine
Freundschaft oder wenigstens seine Unparteilichkeit dem zweithöchsten
Beamten der Bank erschien. Diese Einladung war eine Demütigung des
Direktor-Stellvertreters, mochte sie auch nur in Erwartung der telephonischen
Verbindung über das Hörrohr hinweg gesagt sein. Aber K. mußte eine zweite
Demütigung folgen lassen, er sagte: »Vielen Dank! Aber ich habe leider
Sonntag keine Zeit, ich habe schon eine Verpflichtung.« »Schade«, sagte der
Direktor-Stellvertreter und wandte sich dem telephonischen Gespräch zu, das
gerade hergestellt worden war. Es war kein kurzes Gespräch, aber K. blieb in
seiner Zerstreutheit die ganze Zeit über neben dem Apparat stehen. Erst als
der Direktor-Stellvertreter abläutete, erschrak er und sagte, um sein unnützes
Dasein nur ein wenig zu entschuldigen: »Ich bin jetzt antelephoniert worden,
ich möchte irgendwo hinkommen, aber man hat vergessen, mir zu sagen, zu
welcher Stunde.« »Fragen Sie doch noch einmal nach«, sagte der Direktor-
Stellvertreter. »Es ist nicht so wichtig«, sagte K., obwohl dadurch seine
frühere, schon an sich mangelhafte Entschuldigung noch weiter verfiel. Der
Direktor-Stellvertreter sprach noch im Weggehen über andere Dinge. K.
zwang sich auch zu antworten, dachte aber hauptsächlich daran, daß es am
besten sein werde, Sonntag um neun Uhr vormittags hinzukommen, da zu
dieser Stunde an Werktagen alle Gerichte zu arbeiten anfangen.
Sonntag war trübes Wetter. K. war sehr ermüdet, da er wegen einer
Stammtischfeierlichkeit bis spät in die Nacht im Gasthaus geblieben war, er
hätte fast verschlafen. Eilig, ohne Zeit zu haben, zu überlegen und die
verschiedenen Pläne, die er während der Woche ausgedacht hatte,
zusammenzustellen, kleidete er sich an und lief, ohne zu frühstücken, in die
ihm bezeichnete Vorstadt. Eigentümlicherweise traf er, obwohl er wenig Zeit
hatte, umherzublicken, die drei an seiner Angelegenheit beteiligten Beamten,
Rabensteiner, Kullich und Kaminer. Die ersten zwei fuhren in einer
Elektrischen quer über K.s Weg, Kaminer aber saß auf der Terrasse eines
Kaffeehauses und beugte sich gerade, als K. vorüberkam, neugierig über die
Brüstung. Alle sahen ihm wohl nach und wunderten sich, wie ihr Vorgesetzter
lief; es war irgendein Trotz, der K. davon abgehalten hatte, zu fahren, er hatte
Abscheu vor jeder, selbst der geringsten fremden Hilfe in dieser seiner Sache,
auch wollte er niemanden in Anspruch nehmen und dadurch selbst nur im
allerentferntesten einweihen; schließlich hatte er aber auch nicht die geringste
Lust, sich durch allzu große Pünktlichkeit vor der Untersuchungskommission
zu erniedrigen. Allerdings lief er jetzt, um nur möglichst um neun Uhr
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Der Prozeß
- Title
- Der Prozeß
- Author
- Franz Kafka
- Date
- 1926
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 158
- Keywords
- Roman, Literatur, Schriftsteller, Prozess
- Categories
- Weiteres Belletristik
Table of contents
- Kapitel 1: Verhaftung - Gespräch mit Frau Grubach - Dann Fräulein Bürstner 5
- Kapitel 2: Erste Untersuchung 25
- Kapitel 3: Im leeren Sitzungssaal - Der Student - Die Kanzleien 37
- Kapitel 4: Die Freundin des Fräulein Bürstner 54
- Kapitel 5: Der Prügler 60
- Kapitel 6: Der Onkel - Leni 65
- Kapitel 7: Advokat - Fabrikant - Maler 80
- Kapitel 8: Kaufmann Block - Kündigung des Advokaten 116
- Kapitel 9: Im Dom 138
- Kapitel 10: Ende 155