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Zivilrock des Gerichtsdieners, der als einziges amtliches Abzeichen neben
einigen gewöhnlichen Knöpfen auch zwei vergoldete Knöpfe aufwies, die
von einem alten Offiziersmantel abgetrennt zu sein schienen. »Ich habe vor
einem Weilchen mit Ihrer Frau gesprochen. Sie ist nicht mehr hier. Der
Student hat sie zum Untersuchungsrichter getragen.« »Sehen Sie«, sagte der
Gerichtsdiener, »immer trägt man sie mir weg. Heute ist doch Sonntag, und
ich bin zu keiner Arbeit verpflichtet, aber nur, um mich von hier zu entfernen,
schickt man mich mit einer jedenfalls unnützen Meldung weg. Und zwar
schickt man mich nicht weit weg, so daß ich die Hoffnung habe, wenn ich
mich sehr beeile, vielleicht noch rechtzeitig zurückzukommen. Ich laufe also,
so sehr ich kann, schreie dem Amt, zu dem ich geschickt wurde, meine
Meldung durch den Türspalt so atemlos zu, daß man sie kaum verstanden
haben wird, laufe wieder zurück, aber der Student hat sich noch mehr beeilt
als ich, er hatte allerdings auch einen kürzeren Weg, er mußte nur die
Bodentreppe hinunterlaufen. Wäre ich nicht so abhängig, ich hätte den
Studenten schon längst hier an der Wand zerdrückt. Hier neben dem
Anschlagzettel. Davon träume ich immer. Hier, ein wenig über dem
Fußboden, ist er festgedrückt, die Arme gestreckt, die Finger gespreizt, die
krummen Beine zum Kreis gedreht, und ringsherum Blutspritzer. Bisher war
es aber nur Traum.« »Eine andere Hilfe gibt es nicht?« fragte K. lächelnd.
»Ich wüßte keine«, sagte der Gerichtsdiener. »Und jetzt wird es ja noch ärger,
bisher hat er sie nur zu sich getragen, jetzt trägt er sie, was ich allerdings
längst erwartet habe, auch zum Untersuchungsrichter.« »Hat denn ihre Frau
gar keine Schuld dabei«, fragte K., er mußte sich bei dieser Frage bezwingen,
so sehr fühlte auch er jetzt die Eifersucht. »Aber gewiß«, sagte der
Gerichtsdiener, »sie hat sogar die größte Schuld. Sie hat sich ja an ihn
gehängt. Was ihn betrifft, er läuft allen Weibern nach. In diesem Hause allein
ist er schon aus fünf Wohnungen, in die er sich eingeschlichen hat,
hinausgeworfen worden. Meine Frau ist allerdings die Schönste im ganzen
Haus, und gerade ich darf mich nicht wehren.« »Wenn es sich so verhält, dann
gibt es allerdings keine Hilfe«, sagte K. »Warum denn nicht?« fragte der
Gerichtsdiener. »Man müßte den Studenten, der ein Feigling ist, einmal, wenn
er meine Frau anrühren will, so durchprügeln, daß er es niemals mehr wagt.
Aber ich darf es nicht, und andere machen mir den Gefallen nicht, denn alle
fürchten seine Macht. Nur ein Mann wie Sie könnte es tun.« »Wieso denn
ich?« fragte K. erstaunt. »Sie sind doch angeklagt«, sagte der Gerichtsdiener.
»Ja«, sagte K., »aber desto mehr müßte ich doch fürchten, daß er, wenn auch
vielleicht nicht Einfluß auf den Ausgang des Prozesses, so doch
wahrscheinlich auf die Voruntersuchung hat.« »Ja, gewiß«, sagte der
Gerichtsdiener, als sei die Ansicht K.s genau so richtig wie seine eigene. »Es
werden aber bei uns in der Regel keine aussichtslosen Prozesse geführt.« »Ich
bin nicht ihrer Meinung«, sagte K., »das soll mich aber nicht hindern,
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Der Prozeß
- Title
- Der Prozeß
- Author
- Franz Kafka
- Date
- 1926
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 158
- Keywords
- Roman, Literatur, Schriftsteller, Prozess
- Categories
- Weiteres Belletristik
Table of contents
- Kapitel 1: Verhaftung - Gespräch mit Frau Grubach - Dann Fräulein Bürstner 5
- Kapitel 2: Erste Untersuchung 25
- Kapitel 3: Im leeren Sitzungssaal - Der Student - Die Kanzleien 37
- Kapitel 4: Die Freundin des Fräulein Bürstner 54
- Kapitel 5: Der Prügler 60
- Kapitel 6: Der Onkel - Leni 65
- Kapitel 7: Advokat - Fabrikant - Maler 80
- Kapitel 8: Kaufmann Block - Kündigung des Advokaten 116
- Kapitel 9: Im Dom 138
- Kapitel 10: Ende 155