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Vertrauen.« »Mir ist alles recht, was du unternimmst«, sagte K., obwohl ihm
die eilige und dringliche Art, mit der der Onkel die Angelegenheit behandelte,
Unbehagen verursachte. Es war nicht sehr erfreulich, als Angeklagter zu
einem Armenadvokaten zu fahren. »Ich wußte nicht«, sagte er,»daß man in
einer solchen Sache auch einen Advokaten zuziehen könne.« »Aber
natürlich«, sagte der Onkel, »das ist ja selbstverständlich. Warum denn nicht?
Und nun erzähle mir, damit ich über die Sache genau unterrichtet bin, alles,
was bisher geschehen ist.« K. begann sofort zu erzählen, ohne irgend etwas zu
verschweigen, seine vollständige Offenheit war der einzige Protest, den er
sich gegen des Onkels Ansicht, der Prozeß sei eine große Schande, erlauben
konnte. Fräulein Bürstners Namen erwähnte er nur einmal und flüchtig, aber
das beeinträchtigte nicht die Offenheit, denn Fräulein Bürstner stand mit dem
Prozeß in keiner Verbindung. Während er erzählte, sah er aus dem Fenster
und beobachtete, wie sie sich gerade jener Vorstadt näherten, in der die
Gerichtskanzleien waren, er machte den Onkel darauf aufmerksam, der aber
das Zusammentreffen nicht besonders auffallend fand. Der Wagen hielt vor
einem dunklen Haus. Der Onkel läutete gleich im Parterre bei der ersten Tür;
während sie warteten, fletschte er lächelnd seine großen Zähne und flüsterte:
»Acht Uhr, eine ungewöhnliche Zeit für Parteienbesuche. Huld nimmt es mir
aber nicht übel.« Im Guckfenster der Tür erschienen zwei große, schwarze
Augen, sahen ein Weilchen die zwei Gäste an und verschwanden; die Tür
öffnete sich aber nicht. Der Onkel und K. bestätigten einander gegenseitig die
Tatsache, die zwei Augen gesehen zu haben. »Ein neues Stubenmädchen, das
sich vor Fremden fürchtet«, sagte der Onkel und klopfte nochmals. Wieder
erschienen die Augen, man konnte sie jetzt fast für traurig halten, vielleicht
war das aber auch nur eine Täuschung, hervorgerufen durch die offene
Gasflamme, die nahe über den Köpfen stark zischend brannte, aber wenig
Licht gab. »Öffnen Sie«, rief der Onkel und hieb mit der Faust gegen die Tür,
»es sind Freunde des Herrn Advokaten!« »Der Herr Advokat ist krank«,
flüsterte es hinter ihnen. In einer Tür am andern Ende des kleinen Ganges
stand ein Herr im Schlafrock und machte mit äußerst leiser Stimme diese
Mitteilung. Der Onkel, der schon wegen des langen Wartens wütend war,
wandte sich mit einem Ruck um, rief: »Krank? Sie sagen, er ist krank?« und
ging fast drohend, als sei der Herr die Krankheit, auf ihn zu. »Man hat schon
geöffnet«, sagte der Herr, zeigte auf die Tür des Advokaten, raffte seinen
Schlafrock zusammen und verschwand. Die Tür war wirklich geöffnet
worden, ein junges Mädchen - K. erkannte die dunklen, ein wenig
hervorgewälzten Augen wieder - stand in langer, weißer Schürze im
Vorzimmer und hielt eine Kerze in der Hand. »Nächstens öffnen Sie früher!«
sagte der Onkel statt einer Begrüßung, während das Mädchen einen kleinen
Knicks machte. »Komm, Josef«, sagte er dann zu K., der sich langsam an
dem Mädchen vorüberschob. »Der Herr Advokat ist krank«, sagte das
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Der Prozeß
- Title
- Der Prozeß
- Author
- Franz Kafka
- Date
- 1926
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 158
- Keywords
- Roman, Literatur, Schriftsteller, Prozess
- Categories
- Weiteres Belletristik
Table of contents
- Kapitel 1: Verhaftung - Gespräch mit Frau Grubach - Dann Fräulein Bürstner 5
- Kapitel 2: Erste Untersuchung 25
- Kapitel 3: Im leeren Sitzungssaal - Der Student - Die Kanzleien 37
- Kapitel 4: Die Freundin des Fräulein Bürstner 54
- Kapitel 5: Der Prügler 60
- Kapitel 6: Der Onkel - Leni 65
- Kapitel 7: Advokat - Fabrikant - Maler 80
- Kapitel 8: Kaufmann Block - Kündigung des Advokaten 116
- Kapitel 9: Im Dom 138
- Kapitel 10: Ende 155