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Pflegerin, die noch weit über den Kranken hingebeugt war und gerade das
Leintuch an der Wand glättete, wendete nur den Kopf und sagte sehr ruhig,
was einen auffallenden Unterschied zu den vor Wut stockenden und dann
wieder überfließenden Reden des Onkels bildete: »Sie sehen, der Herr ist so
krank, er kann keine Angelegenheiten besprechen.« Sie hatte die Worte des
Onkels wahrscheinlich nur aus Bequemlichkeit wiederholt, immerhin konnte
es selbst von einem Unbeteiligten als spöttisch aufgefaßt werden, der Onkel
aber fuhr natürlich wie ein Gestochener auf. »Du Verdammte«, sagte er im
ersten Gurgeln der Aufregung noch ziemlich unverständlich, K. erschrak,
obwohl er etwas Ähnliches erwartet hatte, und lief auf den Onkel zu, mit der
bestimmten Absicht, ihm mit beiden Händen den Mund zu schließen.
Glücklicherweise erhob sich aber hinter dem Mädchen der Kranke, der Onkel
machte ein finsteres Gesicht, als schlucke er etwas Abscheuliches hinunter,
und sagte dann ruhiger: »Wir haben natürlich auch noch den Verstand nicht
verloren; wäre das, was ich verlange, nicht möglich, würde ich es nicht
verlangen. Bitte, gehen Sie jetzt!« Die Pflegerin stand aufgerichtet am Bett,
dem Onkel voll zugewendet, mit der einen Hand streichelte sie, wie K. zu
bemerken glaubte, die Hand des Advokaten. »Du kannst vor Leni alles
sagen«, sagte der Kranke, zweifellos im Ton einer dringenden Bitte. »Es
betrifft mich nicht«, sagte der Onkel, »es ist nicht mein Geheimnis.« Und er
drehte sich um, als gedenke er in keine Verhandlungen mehr einzugehen, gebe
aber noch eine kleine Bedenkzeit. »Wen betrifft es denn?« fragte der Advokat
mit erlöschender Stimme und legte sich wieder zurück. »Meinen Neffen«,
sagte der Onkel, »ich habe ihn auch mitgebracht.« Und er stellte vor:
»Prokurist Josef K.« »Oh«, sagte der Kranke viel lebhafter und streckte K. die
Hand entgegen, »verzeihen Sie, ich habe Sie gar nicht bemerkt. Geh, Leni«,
sagte er dann zu der Pflegerin, die sich auch gar nicht mehr wehrte, und
reichte ihr die Hand, als gelte es einen Abschied für lange Zeit. »Du bist
also«, sagte er endlich zum Onkel, der, auch versöhnt, nähergetreten war,
»nicht gekommen, mir einen Krankenbesuch zu machen, sondern du kommst
in Geschäften.« Es war, als hätte die Vorstellung eines Krankenbesuches den
Advokaten bisher gelähmt, so gekräftigt sah er jetzt aus, blieb ständig auf
einem Ellbogen aufgestützt, was ziemlich anstrengend sein mußte, und zog
immer wieder an einem Bartstrahn in der Mitte seines Bartes. »Du siehst
schon viel gesünder aus«, sagte der Onkel, »seit diese Hexe draußen ist.« Er
unterbrach sich, flüsterte: »Ich wette, daß sie horcht!« und er sprang zur Tür.
Aber hinter der Tür war niemand, der Onkel kam zurück, nicht enttäuscht,
denn ihr Nichthorchen erschien ihm als eine noch größere Bosheit, wohl aber
verbittert: »Du verkennst sie«, sagte der Advokat, ohne die Pflegerin weiter in
Schutz zu nehmen; vielleicht wollte er damit ausdrücken, daß sie nicht
schutzbedürftig sei. Aber in viel teilnehmenderem Tone fuhr er fort: »Was die
Angelegenheit deines Herrn Neffen betrifft, so würde ich mich allerdings
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Der Prozeß
- Title
- Der Prozeß
- Author
- Franz Kafka
- Date
- 1926
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 158
- Keywords
- Roman, Literatur, Schriftsteller, Prozess
- Categories
- Weiteres Belletristik
Table of contents
- Kapitel 1: Verhaftung - Gespräch mit Frau Grubach - Dann Fräulein Bürstner 5
- Kapitel 2: Erste Untersuchung 25
- Kapitel 3: Im leeren Sitzungssaal - Der Student - Die Kanzleien 37
- Kapitel 4: Die Freundin des Fräulein Bürstner 54
- Kapitel 5: Der Prügler 60
- Kapitel 6: Der Onkel - Leni 65
- Kapitel 7: Advokat - Fabrikant - Maler 80
- Kapitel 8: Kaufmann Block - Kündigung des Advokaten 116
- Kapitel 9: Im Dom 138
- Kapitel 10: Ende 155