Page - 82 - in Der Prozeß
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Luke, die so hochgelegen ist, daß man, wenn man hinausschauen will, wo
einem übrigens der Rauch eines knapp davor gelegenen Kamins in die Nase
fährt und das Gesicht schwärzt, erst einen Kollegen suchen muß, der einen
auf den Rücken nimmt. Im Fußboden dieser Kammer - um nur noch ein
Beispiel für diese Zustände anzuführen - ist nun schon seit mehr als einem
Jahr ein Loch, nicht so groß, daß ein Mensch durchfallen könnte, aber groß
genug, daß man mit einem Bein ganz einsinkt. Das Advokatenzimmer liegt
auf dem zweiten Dachboden; sinkt also einer ein, so hängt das Bein in den
ersten Dachboden hinunter, und zwar gerade in den Gang, wo die Parteien
warten. Es ist nicht zuviel gesagt, wenn man in Advokatenkreisen solche
Verhältnisse schändlich nennt. Beschwerden an die Verwaltung haben nicht
den geringsten Erfolg, wohl aber ist es den Advokaten auf das strengste
verboten, irgend etwas in dem Zimmer auf eigene Kosten ändern zu lassen.
Aber auch diese Behandlung der Advokaten hat ihre Begründung. Man will
die Verteidigung möglichst ausschalten, alles soll auf den Angeklagten selbst
gestellt sein. Kein schlechter Standpunkt im Grunde, nichts wäre aber
verfehlter, als daraus zu folgern, daß bei diesem Gericht die Advokaten für
den Angeklagten unnötig sind. Im Gegenteil, bei keinem anderen Gericht sind
sie so notwendig wie bei diesem. Das Verfahren ist nämlich im allgemeinen
nicht nur vor der Öffentlichkeit geheim, sondern auch vor dem Angeklagten.
Natürlich nur soweit dies möglich ist, es ist aber in sehr weitem Ausmaß
möglich. Auch der Angeklagte hat nämlich keinen Einblick in die
Gerichtsschriften, und aus den Verhören auf die ihnen zugrunde liegenden
Schriften zu schließen, ist sehr schwierig, insbesondere aber für den
Angeklagten, der doch befangen ist und alle möglichen Sorgen hat, die ihn
zerstreuen. Hier greift nun die Verteidigung ein. Bei den Verhören dürfen im
allgemeinen Verteidiger nicht anwesend sein, sie müssen daher nach den
Verhören, und zwar möglichst noch an der Tür des Untersuchungszimmers,
den Angeklagten über das Verhör ausforschen und diesen oft schon sehr
vermischten Berichten das für die Verteidigung Taugliche entnehmen. Aber
das Wichtigste ist dies nicht, denn viel kann man auf diese Weise nicht
erfahren, wenn natürlich auch hier wie überall ein tüchtiger Mann mehr
erfährt als andere. Das Wichtigste bleiben trotzdem die persönlichen
Beziehungen des Advokaten, in ihnen liegt der Hauptwert der Verteidigung.
Nun habe ja wohl K. schon seinen eigenen Erlebnissen entnommen, daß die
allerunterste Organisation des Gerichtes nicht ganz vollkommen ist,
pflichtvergessene und bestechliche Angestellte aufweist, wodurch
gewissermaßen die strenge Abschließung des Gerichtes Lücken bekommt.
Hier nun drängt sich die Mehrzahl der Advokaten ein, hier wird bestochen
und ausgehorcht, ja es kamen, wenigstens in früherer Zeit, sogar Fälle von
Aktendiebstählen vor. Es ist nicht zu leugnen, daß auf diese Weise für den
Augenblick einige sogar überraschend günstige Resultate für den
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book Der Prozeß"
Der Prozeß
- Title
- Der Prozeß
- Author
- Franz Kafka
- Date
- 1926
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 158
- Keywords
- Roman, Literatur, Schriftsteller, Prozess
- Categories
- Weiteres Belletristik
Table of contents
- Kapitel 1: Verhaftung - Gespräch mit Frau Grubach - Dann Fräulein Bürstner 5
- Kapitel 2: Erste Untersuchung 25
- Kapitel 3: Im leeren Sitzungssaal - Der Student - Die Kanzleien 37
- Kapitel 4: Die Freundin des Fräulein Bürstner 54
- Kapitel 5: Der Prügler 60
- Kapitel 6: Der Onkel - Leni 65
- Kapitel 7: Advokat - Fabrikant - Maler 80
- Kapitel 8: Kaufmann Block - Kündigung des Advokaten 116
- Kapitel 9: Im Dom 138
- Kapitel 10: Ende 155