Page - 88 - in Der Prozeß
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nicht in guten Händen war. Es mochte ja alles richtig sein, was der Advokat
erzählte, wenn es auch durchsichtig war, daß er sich möglichst in den
Vordergrund stellen wollte und wahrscheinlich noch niemals einen so großen
Prozeß geführt hatte, wie es K.s Prozeß seiner Meinung nach war. Verdächtig
aber blieben die unaufhörlich hervorgehobenen persönlichen Beziehungen zu
den Beamten. Mußten sie denn ausschließlich zu K.s Nutzen ausgebeutet
werden? Der Advokat vergaß nie zu bemerken, daß es sich nur um niedrige
Beamte handelte, also um Beamte in sehr abhängiger Stellung, für deren
Fortkommen gewisse Wendungen der Prozesse wahrscheinlich von
Bedeutung sein konnten. Benützten sie vielleicht den Advokaten dazu, um
solche für den Angeklagten natürlich immer ungünstige Wendungen zu
erzielen? Vielleicht taten sie das nicht in jedem Prozeß, gewiß, das war nicht
wahrscheinlich, es gab dann wohl wieder Prozesse, in deren Verlauf sie dem
Advokaten für seine Dienste Vorteile einräumten, denn es mußte ihnen ja
auch daran gelegen sein, seinen Ruf ungeschädigt zu erhalten. Verhielt es sich
aber wirklich so, in welcher Weise würden sie bei K.s Prozeß eingreifen, der,
wie der Advokat erklärte, ein sehr schwieriger, also wichtiger Prozeß war und
gleich anfangs bei Gericht große Aufmerksamkeit erregt hatte? Es konnte
nicht sehr zweifelhaft sein, was sie tun würden. Anzeichen dessen konnte man
ja schon darin sehen, daß die erste Eingabe noch immer nicht überreicht war,
obwohl der Prozeß schon Monate dauerte und daß sich alles, den Angaben
des Advokaten nach, in den Anfängen befand, was natürlich sehr geeignet
war, den Angeklagten einzuschläfern und hilflos zu erhalten, um ihn dann
plötzlich mit der Entscheidung zu überfallen oder wenigstens mit der
Bekanntmachung, daß die zu seinen Ungunsten abgeschlossene Untersuchung
an die höheren Behörden weitergegeben werde.
Es war unbedingt nötig, daß K. selbst eingriff. Gerade in Zuständen großer
Müdigkeit, wie an diesem Wintervormittag, wo ihm alles willenlos durch den
Kopf zog, war diese Überzeugung unabweisbar. Die Verachtung, die er früher
für den Prozeß gehabt hatte, galt nicht mehr. Wäre er allein in der Welt
gewesen, hätte er den Prozeß leicht mißachten können, wenn es allerdings
auch sicher war, daß dann der Prozeß überhaupt nicht entstanden wäre. Jetzt
aber hatte ihn der Onkel schon zum Advokaten gezogen, Familienrücksichten
sprachen mit; seine Stellung war nicht mehr vollständig unabhängig von dem
Verlauf des Prozesses, er selbst hatte unvorsichtigerweise mit einer gewissen
unerklärlichen Genugtuung vor Bekannten den Prozeß erwähnt, andere hatten
auf unbekannte Weise davon erfahren, das Verhältnis zu Fräulein Bürstner
schien entsprechend dem Prozeß zu schwanken - kurz, er hatte kaum mehr die
Wahl, den Prozeß anzunehmen oder abzulehnen, er stand mitten darin und
mußte sich wehren. War er müde, dann war es schlimm.
Zu übertriebener Sorge war allerdings vorläufig kein Grund. Er hatte es
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book Der Prozeß"
Der Prozeß
- Title
- Der Prozeß
- Author
- Franz Kafka
- Date
- 1926
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 158
- Keywords
- Roman, Literatur, Schriftsteller, Prozess
- Categories
- Weiteres Belletristik
Table of contents
- Kapitel 1: Verhaftung - Gespräch mit Frau Grubach - Dann Fräulein Bürstner 5
- Kapitel 2: Erste Untersuchung 25
- Kapitel 3: Im leeren Sitzungssaal - Der Student - Die Kanzleien 37
- Kapitel 4: Die Freundin des Fräulein Bürstner 54
- Kapitel 5: Der Prügler 60
- Kapitel 6: Der Onkel - Leni 65
- Kapitel 7: Advokat - Fabrikant - Maler 80
- Kapitel 8: Kaufmann Block - Kündigung des Advokaten 116
- Kapitel 9: Im Dom 138
- Kapitel 10: Ende 155