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hatte es ihr zu verdanken, daß er gleich den richtigen Weg fand. Er wollte
nämlich geradeaus weitersteigen, sie aber zeigte ihm, daß er eine Abzweigung
der Treppe wählen müsse, um zu Titorelli zu kommen. Die Treppe, die zu ihm
führte, war besonders schmal, sehr lang, ohne Biegung, in ihrer ganzen Länge
zu übersehen und oben unmittelbar vor Titorellis Tür abgeschlossen. Diese
Tür, die durch ein kleines, schief über ihr eingesetztes Oberlichtfenster im
Gegensatz zur übrigen Treppe verhältnismäßig hell beleuchtet wurde, war aus
nicht übertünchten Balken zusammengesetzt, auf die der Name Titorelli mit
roter Farbe in breiten Pinselstrichen gemalt war. K. war mit seinem Gefolge
noch kaum in der Mitte der Treppe, als oben, offenbar veranlaßt durch das
Geräusch der vielen Schritte, die Tür ein wenig geöffnet wurde und ein
wahrscheinlich nur mit einem Nachthemd bekleideter Mann in der Türspalte
erschien. »Oh!« rief er, als er die Menge kommen sah, und verschwand. Die
Bucklige klatschte vor Freude in die Hände, und die übrigen Mädchen
drängten hinter K., um ihn schneller vorwärtszutreiben.
Sie waren aber noch nicht einmal hinaufgekommen, als oben der Maler die
Tür gänzlich aufriß und mit einer tiefen Verbeugung K. einlud, einzutreten.
Die Mädchen dagegen wehrte er ab, er wollte keine von ihnen einlassen,
sosehr sie baten und sosehr sie versuchten, wenn schon nicht mit seiner
Erlaubnis, so gegen seinen Willen einzudringen. Nur der Buckligen gelang es,
unter seinem ausgestreckten Arm durchzuschlüpfen, aber der Maler jagte
hinter ihr her, packte sie bei den Röcken, wirbelte sie einmal um sich herum
und setzte sie dann vor die Tür bei den anderen Mädchen ab, die es, während
der Maler seinen Posten verlassen hatte, doch nicht gewagt hatten, die
Schwelle zu überschreiten. K. wußte nicht, wie er das Ganze beurteilen sollte,
es hatte nämlich den Anschein, als ob alles in freundschaftlichem
Einvernehmen geschehe. Die Mädchen bei der Tür streckten, eines hinter dem
anderen, die Hälse in die Höhe, riefen dem Maler verschiedene scherzhaft
gemeinte Worte zu, die K. nicht verstand, und auch der Maler lachte, während
die Bucklige in seiner Hand fast flog. Dann schloß er die Tür, verbeugte sich
nochmals vor K., reichte ihm die Hand und sagte, sich vorstellend:
»Kunstmaler Titorelli.« K. zeigte auf die Tür, hinter der die Mädchen
flüsterten, und sagte: »Sie scheinen im Hause sehr beliebt zu sein.« »Ach, die
Fratzen!« sagte der Maler und suchte vergebens sein Nachthemd am Halse
zuzuknöpfen. Er war im übrigen bloßfüßig und nur noch mit einer breiten,
gelblichen Leinenhose bekleidet, die mit einem Riemen festgemacht war,
dessen langes Ende frei hin und her schlug. »Diese Fratzen sind mir eine
wahre Last«, fuhr er fort, während er vom Nachthemd, dessen letzter Knopf
gerade abgerissen war, abließ, einen Sessel holte und K. zum Niedersetzen
nötigte. »Ich habe eine von ihnen - sie ist heute nicht einmal dabei - einmal
gemalt, und seitdem verfolgen mich alle. Wenn ich selbst hier bin, kommen
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Der Prozeß
- Title
- Der Prozeß
- Author
- Franz Kafka
- Date
- 1926
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 158
- Keywords
- Roman, Literatur, Schriftsteller, Prozess
- Categories
- Weiteres Belletristik
Table of contents
- Kapitel 1: Verhaftung - Gespräch mit Frau Grubach - Dann Fräulein Bürstner 5
- Kapitel 2: Erste Untersuchung 25
- Kapitel 3: Im leeren Sitzungssaal - Der Student - Die Kanzleien 37
- Kapitel 4: Die Freundin des Fräulein Bürstner 54
- Kapitel 5: Der Prügler 60
- Kapitel 6: Der Onkel - Leni 65
- Kapitel 7: Advokat - Fabrikant - Maler 80
- Kapitel 8: Kaufmann Block - Kündigung des Advokaten 116
- Kapitel 9: Im Dom 138
- Kapitel 10: Ende 155