Page - 101 - in Der Prozeß
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sie nur herein, wenn ich es erlaube, bin ich aber einmal weg, dann ist immer
zumindest eine da. Sie haben sich einen Schlüssel zu meiner Tür machen
lassen, den sie untereinander verleihen. Man kann sich kaum vorstellen, wie
lästig das ist. Ich komme zum Beispiel mit einer Dame, die ich malen soll,
nach Hause, öffne die Tür mit meinem Schlüssel und finde etwa die Bucklige
dort beim Tischchen, wie sie sich mit dem Pinsel die Lippen rot färbt,
während ihre kleinen Geschwister, die sie zu beaufsichtigen hat, sich
herumtreiben und das Zimmer in allen Ecken verunreinigen. Oder ich
komme, wie es mir erst gestern geschehen ist, spätabends nach Hause -
entschuldigen Sie, bitte, mit Rücksicht darauf meinen Zustand und die
Unordnung im Zimmer -, also ich komme spätabends nach Hause und will ins
Bett steigen, da zwickt mich etwas ins Bein, ich schaue unter das Bett und
ziehe wieder so ein Ding heraus. Warum sie sich so zu mir drängen, weiß ich
nicht, daß ich sie nicht zu mir zu locken suche, dürften Sie eben bemerkt
haben. Natürlich bin ich dadurch auch in meiner Arbeit gestört. Wäre mir
dieses Atelier nicht umsonst zur Verfügung gestellt, ich wäre schon längst
ausgezogen.« Gerade rief hinter der Tür ein Stimmchen, zart und ängstlich:
»Titorelli, dürfen wir schon kommen?« »Nein«, antwortete der Maler. »Ich
allein auch nicht?« fragte es wieder. »Auch nicht«, sagte der Maler, ging zur
Tür und sperrte sie ab.
K. hatte sich inzwischen im Zimmer umgesehen, er wäre niemals selbst auf
den Gedanken gekommen, daß man dieses elende kleine Zimmer ein Atelier
nennen könnte. Mehr als zwei lange Schritte konnte man der Länge und
Quere nach kaum hier machen. Alles, Fußboden, Wände und Zimmerdecke,
war aus Holz, zwischen den Balken sah man schmale Ritzen. K. gegenüber
stand an der Wand das Bett, das mit verschiedenfarbigem Bettzeug überladen
war. In der Mitte des Zimmers war auf einer Staffelei ein Bild, das mit einem
Hemd verhüllt war, dessen Ärmel bis zum Boden baumelten. Hinter K. war
das Fenster, durch das man im Nebel nicht weiter sehen konnte als über das
mit Schnee bedeckte Dach des Nachbarhauses.
Das Umdrehen des Schlüssels im Schloß erinnerte K. daran, daß er bald
hatte weggehen wollen. Er zog daher den Brief des Fabrikanten aus der
Tasche, reichte ihn dem Maler und sagte: »Ich habe durch diesen Herrn, Ihren
Bekannten, von Ihnen erfahren und bin auf seinen Rat hin gekommen.« Der
Maler las den Brief flüchtig durch und warf ihn aufs Bett. Hätte der Fabrikant
nicht auf das bestimmteste von Titorelli als von seinem Bekannten
gesprochen, als von einem armen Menschen, der auf seine Almosen
angewiesen war, so hätte man jetzt wirklich glauben können, Titorelli kenne
den Fabrikanten nicht oder wisse sich an ihn wenigstens nicht zu erinnern.
Überdies fragte nun der Maler: »Wollen Sie Bilder kaufen oder sich selbst
malen lassen?« K. sah den Maler erstaunt an. Was stand denn eigentlich in
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Der Prozeß
- Title
- Der Prozeß
- Author
- Franz Kafka
- Date
- 1926
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 158
- Keywords
- Roman, Literatur, Schriftsteller, Prozess
- Categories
- Weiteres Belletristik
Table of contents
- Kapitel 1: Verhaftung - Gespräch mit Frau Grubach - Dann Fräulein Bürstner 5
- Kapitel 2: Erste Untersuchung 25
- Kapitel 3: Im leeren Sitzungssaal - Der Student - Die Kanzleien 37
- Kapitel 4: Die Freundin des Fräulein Bürstner 54
- Kapitel 5: Der Prügler 60
- Kapitel 6: Der Onkel - Leni 65
- Kapitel 7: Advokat - Fabrikant - Maler 80
- Kapitel 8: Kaufmann Block - Kündigung des Advokaten 116
- Kapitel 9: Im Dom 138
- Kapitel 10: Ende 155