Page - 115 - in Der Prozeß
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hier Gerichtskanzleien sind? Gerichtskanzleien sind doch fast auf jedem
Dachboden, warum sollten sie gerade hier fehlen? Auch mein Atelier gehört
eigentlich zu den Gerichtskanzleien, das Gericht hat es mir aber zur
Verfügung gestellt.« K. erschrak nicht so sehr darüber, daß er auch hier
Gerichtskanzleien gefunden hatte, er erschrak hauptsächlich über sich, über
seine Unwissenheit in Gerichtssachen. Als eine Grundregel für das Verhalten
eines Angeklagten erschien es ihm, immer vorbereitet zu sein, sich niemals
überraschen zu lassen, nicht ahnungslos nach rechts zu schauen, wenn links
der Richter neben ihm stand - und gerade gegen diese Grundregel verstieß er
immer wieder. Vor ihm dehnte sich ein langer Gang, aus dem eine Luft wehte,
mit der verglichen die Luft im Atelier erfrischend war. Bänke waren zu
beiden Seiten des Ganges aufgestellt, genau so wie im Wartezimmer der
Kanzlei, die für K. zuständig war. Es schienen genaue Vorschriften für die
Einrichtung von Kanzleien zu bestehen. Augenblicklich war der
Parteienverkehr hier nicht sehr groß. Ein Mann saß dort halb liegend, das
Gesicht hatte er auf der Bank in seine Arme vergraben und schien zu
schlafen; ein anderer stand im Halbdunkel am Ende des Ganges. K. stieg nun
über das Bett, der Maler folgte ihm mit den Bildern. Sie trafen bald einen
Gerichtsdiener - K. erkannte jetzt schon alle Gerichtsdiener an dem
Goldknopf, den diese an ihrem Zivilanzug unter den gewöhnlichen Knöpfen
hatten - und der Maler gab ihm den Auftrag, K. mit den Bildern zu begleiten.
K. wankte mehr, als er ging, das Taschentuch hielt er an den Mund gedrückt.
Sie waren schon nahe am Ausgang, da stürmten ihnen die Mädchen entgegen,
die also K. auch nicht erspart geblieben waren. Sie hatten offenbar gesehen,
daß die zweite Tür des Ateliers geöffnet worden war und hatten den Umweg
gemacht, um von dieser Seite einzudringen. »Ich kann Sie nicht mehr
begleiten!« rief der Maler lachend unter dem Andrang der Mädchen. »Auf
Wiedersehen! Und überlegen Sie nicht zu lange!« K. sah sich nicht einmal
nach ihm um. Auf der Gasse nahm er den ersten Wagen, der ihm in den Weg
kam. Es lag ihm daran, den Diener loszuwerden, dessen Goldknopf ihm
unaufhörlich in die Augen stach, wenn er auch sonst wahrscheinlich
niemandem auffiel. In seiner Dienstfertigkeit wollte sich der Diener noch auf
den Kutschbock setzen. K. jagte ihn aber hinunter. Mittag war schon längst
vorüber, als K. vor der Bank ankam. Er hätte gern die Bilder im Wagen
gelassen, fürchtete aber, bei irgendeiner Gelegenheit genötigt zu werden, sich
dem Maler gegenüber mit ihnen auszuweisen. Er ließ sie daher in sein Büro
schaffen und versperrte sie in die unterste Lade seines Tisches, um sie
wenigstens für die allernächsten Tage vor den Blicken des Direktor-
Stellvertreters in Sicherheit zu bringen.
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Der Prozeß
- Title
- Der Prozeß
- Author
- Franz Kafka
- Date
- 1926
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 158
- Keywords
- Roman, Literatur, Schriftsteller, Prozess
- Categories
- Weiteres Belletristik
Table of contents
- Kapitel 1: Verhaftung - Gespräch mit Frau Grubach - Dann Fräulein Bürstner 5
- Kapitel 2: Erste Untersuchung 25
- Kapitel 3: Im leeren Sitzungssaal - Der Student - Die Kanzleien 37
- Kapitel 4: Die Freundin des Fräulein Bürstner 54
- Kapitel 5: Der Prügler 60
- Kapitel 6: Der Onkel - Leni 65
- Kapitel 7: Advokat - Fabrikant - Maler 80
- Kapitel 8: Kaufmann Block - Kündigung des Advokaten 116
- Kapitel 9: Im Dom 138
- Kapitel 10: Ende 155