Page - 117 - in Der Prozeß
Image of the Page - 117 -
Text of the Page - 117 -
den Zimmern hindurchführte, Leni, welcher der Warnungsruf des Türöffners
gegolten hatte, im Hemd davonlief. Er blickte ihr ein Weilchen nach und sah
sich dann nach dem Türöffner um. Es war ein kleiner, dürrer Mann mit
Vollbart, er hielt eine Kerze in der Hand. »Sie sind hier angestellt?« fragte K.
»Nein«, antwortete der Mann, »ich bin hier fremd, der Advokat ist nur mein
Vertreter, ich bin hier wegen einer Rechtsangelegenheit.« »Ohne Rock?«
fragte K. und zeigte mit einer Handbewegung auf die mangelhafte Bekleidung
des Mannes. »Ach, verzeihen Sie!« sagte der Mann und beleuchtete sich
selbst mit der Kerze, als sähe er selbst zum erstenmal seinen Zustand. »Leni
ist Ihre Geliebte?« fragte K. kurz. Er hatte die Beine ein wenig gespreizt, die
Hände, in denen er den Hut hielt, hinten verschlungen. Schon durch den
Besitz eines starken Überrocks fühlte er sich dem mageren Kleinen sehr
überlegen. »O Gott«, sagte der und hob die eine Hand in erschrockener
Abwehr vor das Gesicht, »nein, nein, was denken Sie denn?« »Sie sehen
glaubwürdig aus«, sagte K. lächelnd, »trotzdem kommen Sie.« Er winkte ihm
mit dem Hut und ließ ihn vor sich gehen. »Wie heißen Sie denn?« fragte K.
auf dem Weg. »Block, Kaufmann Block«, sagte der Kleine und drehte sich
bei dieser Vorstellung nach K. um, stehenbleiben ließ ihn aber K. nicht. »Ist
das Ihr wirklicher Name?« fragte K. »Gewiß«, war die Antwort, »warum
haben Sie denn Zweifel?« »Ich dachte, Sie könnten Grund haben, Ihren
Namen zu verschweigen«, sagte K. Er fühlte sich so frei, wie man es sonst
nur ist, wenn man in der Fremde mit niedrigen Leuten spricht, alles, was
einen selbst betrifft, bei sich behält, nur gleichmütig von den Interessen der
anderen redet, sie dadurch vor sich selbst erhöht, aber auch nach Belieben
fallen lassen kann. Bei der Tür des Arbeitszimmers des Advokaten blieb K.
stehen, öffnete sie und rief dem Kaufmann, der folgsam weitergegangen war,
zu: »Nicht so eilig! Leuchten Sie hier!« K. dachte, Leni könnte sich hier
versteckt haben, er ließ den Kaufmann alle Winkel absuchen, aber das
Zimmer war leer. Vor dem Bild des Richters hielt K. den Kaufmann hinten an
den Hosenträgern zurück. »Kennen Sie den?« fragte er und zeigte mit dem
Zeigefinger in die Höhe. Der Kaufmann hob die Kerze, sah blinzelnd hinauf
und sagte: »Es ist ein Richter.« »Ein hoher Richter?« fragte K. und stellte sich
seitlich vor den Kaufmann, um den Eindruck, den das Bild auf ihn machte, zu
beobachten. Der Kaufmann sah bewundernd aufwärts. »Es ist ein hoher
Richter«, sagte er. »Sie haben keinen großen Einblick«, sagte K. »Unter den
niedrigen Untersuchungsrichtern ist er der niedrigste.« »Nun erinnere ich
mich«, sagte der Kaufmann und senkte die Kerze, »ich habe es auch schon
gehört.« »Aber natürlich«, rief K., »ich vergaß ja, natürlich müssen Sie es
schon gehört haben.« »Aber warum denn, warum denn?« fragte der
Kaufmann, während er sich, von K. mit den Händen angetrieben, zur Tür
fortbewegte. Draußen auf dem Gang sagte K.: »Sie wissen doch, wo sich Leni
versteckt hat?« »Versteckt?« sagte der Kaufmann, »nein, sie dürfte aber in der
117
back to the
book Der Prozeß"
Der Prozeß
- Title
- Der Prozeß
- Author
- Franz Kafka
- Date
- 1926
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 158
- Keywords
- Roman, Literatur, Schriftsteller, Prozess
- Categories
- Weiteres Belletristik
Table of contents
- Kapitel 1: Verhaftung - Gespräch mit Frau Grubach - Dann Fräulein Bürstner 5
- Kapitel 2: Erste Untersuchung 25
- Kapitel 3: Im leeren Sitzungssaal - Der Student - Die Kanzleien 37
- Kapitel 4: Die Freundin des Fräulein Bürstner 54
- Kapitel 5: Der Prügler 60
- Kapitel 6: Der Onkel - Leni 65
- Kapitel 7: Advokat - Fabrikant - Maler 80
- Kapitel 8: Kaufmann Block - Kündigung des Advokaten 116
- Kapitel 9: Im Dom 138
- Kapitel 10: Ende 155