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K. zufällig umdrehte, sah er nicht weit hinter sich eine hohe, starke, an einer
Säule befestigte Kerze gleichfalls brennen. So schön das war, zur
Beleuchtung der Altarbilder, die meistens in der Finsternis der Seitenaltäre
hingen, war das gänzlich unzureichend, es vermehrte vielmehr die Finsternis.
Es war vom Italiener ebenso vernünftig als unhöflich gehandelt, daß er nicht
gekommen war, es wäre nichts zu sehen gewesen, man hätte sich damit
begnügen müssen, mit K.s elektrischer Taschenlampe einige Bilder zollweise
abzusuchen. Um zu versuchen, was man davon erwarten könnte, ging K. zu
einer nahen Seitenkapelle, stieg ein paar Stufen bis zu einer niedrigen
Marmorbrüstung und, über sie vorgebeugt, beleuchtete er mit der Lampe das
Altarbild. Störend schwebte das ewige Licht davor. Das erste, was K. sah und
zum Teil erriet, war ein großer, gepanzerter Ritter, der am äußersten Rande
des Bildes dargestellt war. Er stützte sich auf sein Schwert, das er in den
kahlen Boden vor sich - nur einige Grashalme kamen hie und da hervor -
gestoßen hatte. Er schien aufmerksam einen Vorgang zu beobachten, der sich
vor ihm abspielte. Es war erstaunlich, daß er so stehenblieb und sich nicht
näherte. Vielleicht war er dazu bestimmt, Wache zu stehen. K., der schon
lange keine Bilder gesehen hatte, betrachtete den Ritter längere Zeit, obwohl
er immerfort mit den Augen zwinkern mußte, da er das grüne Licht der
Lampe nicht vertrug. Als er dann das Licht über den übrigen Teil des Bildes
streichen ließ, fand er eine Grablegung Christi in gewöhnlicher Auffassung,
es war übrigens ein neueres Bild. Er steckte die Lampe ein und kehrte wieder
zu seinem Platz zurück.
Es war nun schon wahrscheinlich unnötig, auf den Italiener zu warten,
draußen war aber gewiß strömender Regen, und da es hier nicht so kalt war,
wie K. erwartet hatte, beschloß er, vorläufig hierzubleiben. In seiner
Nachbarschaft war die große Kanzel, auf ihrem kleinen, runden Dach waren
halb liegend zwei leere, goldene Kreuze angebracht, die einander mit ihrer
äußersten Spitze überquerten. Die Außenwand der Brüstung und der
Übergang zur tragenden Säule war von grünem Laubwerk gebildet, in das
kleine Engel griffen, bald lebhaft, bald ruhend. K. trat vor die Kanzel und
untersuchte sie von allen Seiten, die Bearbeitung des Steines war überaus
sorgfältig, das tiefe Dunkel zwischen dem Laubwerk und hinter ihm schien
wie eingefangen und festgehalten, K. legte seine Hand in eine solche Lücke
und tastete dann den Stein vorsichtig ab, von dem Dasein dieser Kanzel hatte
er bisher gar nicht gewußt. Da bemerkte er zufällig hinter der nächsten
Bankreihe einen Kirchendiener, der dort in einem hängenden, faltigen,
schwarzen Rock stand, in der linken Hand eine Schnupftabakdose hielt und
ihn betrachtete. Was will denn der Mann? dachte K. Bin ich ihm verdächtig?
Will er ein Trinkgeld? Als sich aber nun der Kirchendiener von K. bemerkt
sah, zeigte er mit der Rechten, zwischen zwei Fingern hielt er noch eine Prise
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Der Prozeß
- Title
- Der Prozeß
- Author
- Franz Kafka
- Date
- 1926
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 158
- Keywords
- Roman, Literatur, Schriftsteller, Prozess
- Categories
- Weiteres Belletristik
Table of contents
- Kapitel 1: Verhaftung - Gespräch mit Frau Grubach - Dann Fräulein Bürstner 5
- Kapitel 2: Erste Untersuchung 25
- Kapitel 3: Im leeren Sitzungssaal - Der Student - Die Kanzleien 37
- Kapitel 4: Die Freundin des Fräulein Bürstner 54
- Kapitel 5: Der Prügler 60
- Kapitel 6: Der Onkel - Leni 65
- Kapitel 7: Advokat - Fabrikant - Maler 80
- Kapitel 8: Kaufmann Block - Kündigung des Advokaten 116
- Kapitel 9: Im Dom 138
- Kapitel 10: Ende 155