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sich. Fast hatte er schon das Gebiet der Bänke verlassen und näherte sich dem
freien Raum, der zwischen ihnen und dem Ausgang lag, als er zum erstenmal
die Stimme des Geistlichen hörte. Eine mächtige, geübte Stimme. Wie
durchdrang sie den zu ihrer Aufnahme bereiten Dom! Es war aber nicht die
Gemeinde, die der Geistliche anrief, es war ganz eindeutig, und es gab keine
Ausflüchte, er rief: »Josef K.!«
K. stockte und sah vor sich auf den Boden. Vorläufig war er noch frei, er
konnte noch weitergehen und durch eine der drei kleinen, dunklen Holztüren,
die nicht weit vor ihm waren, sich davonmachen. Es würde eben bedeuten,
daß er nicht verstanden hatte, oder daß er zwar verstanden hatte, sich aber
darum nicht kümmern wollte. Falls er sich aber umdrehte, war er festgehalten,
denn dann hatte er das Geständnis gemacht, daß er gut verstanden hatte, daß
er wirklich der Angerufene war und daß er auch folgen wollte. Hätte der
Geistliche nochmals gerufen, wäre K. gewiß fortgegangen, aber da alles still
blieb, solange K. auch wartete, drehte er doch ein wenig den Kopf, denn er
wollte sehen, was der Geistliche jetzt mache. Er stand ruhig auf der Kanzel
wie früher, es war aber deutlich zu sehen, daß er K.s Kopfwendung bemerkt
hatte. Es wäre ein kindliches Versteckenspiel gewesen, wenn sich jetzt K.
nicht vollständig umgedreht hätte. Er tat es und wurde vom Geistlichen durch
ein Winken des Fingers näher gerufen. Da jetzt alles offen geschehen konnte,
lief er - er tat es auch aus Neugierde und um die Angelegenheit abzukürzen -
mit langen, fliegenden Schritten der Kanzel entgegen. Bei den ersten Bänken
machte er halt, aber dem Geistlichen schien die Entfernung noch zu groß, er
streckte die Hand aus und zeigte mit dem scharf gesenkten Zeigefinger auf
eine Stelle knapp vor der Kanzel. K. folgte auch darin, er mußte auf diesem
Platz den Kopf schon weit zurückbeugen, um den Geistlichen noch zu sehen.
»Du bist Josef K.«, sagte der Geistliche und erhob eine Hand auf der
Brüstung in einer unbestimmten Bewegung. »Ja«, sagte K., er dachte daran,
wie offen er früher immer seinen Namen genannt hatte, seit einiger Zeit war
er ihm eine Last, auch kannten jetzt seinen Namen Leute, mit denen er zum
erstenmal zusammenkam, wie schön war es, sich zuerst vorzustellen und dann
erst gekannt zu werden. »Du bist angeklagt«, sagte der Geistliche besonders
leise. »Ja«, sagte K., »man hat mich davon verständigt.« »Dann bist du der,
den ich suche«, sagte der Geistliche. »Ich bin der Gefängniskaplan.« »Ach
so«, sagte K. »Ich habe dich hierher rufen lassen«, sagte der Geistliche, »um
mit dir zu sprechen.« »Ich wußte es nicht«, sagte K. »Ich bin
hierhergekommen, um einem Italiener den Dom zu zeigen.« »Laß das
Nebensächliche«, sagte der Geistliche. »Was hältst du in der Hand? Ist es ein
Gebetbuch?« »Nein«, antwortete K., »es ist ein Album der städtischen
Sehenswürdigkeiten.« »Leg es aus der Hand«, sagte der Geistliche. K. warf es
so heftig weg, daß es aufklappte und mit zerdrückten Blättern ein Stück über
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Der Prozeß
- Title
- Der Prozeß
- Author
- Franz Kafka
- Date
- 1926
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 158
- Keywords
- Roman, Literatur, Schriftsteller, Prozess
- Categories
- Weiteres Belletristik
Table of contents
- Kapitel 1: Verhaftung - Gespräch mit Frau Grubach - Dann Fräulein Bürstner 5
- Kapitel 2: Erste Untersuchung 25
- Kapitel 3: Im leeren Sitzungssaal - Der Student - Die Kanzleien 37
- Kapitel 4: Die Freundin des Fräulein Bürstner 54
- Kapitel 5: Der Prügler 60
- Kapitel 6: Der Onkel - Leni 65
- Kapitel 7: Advokat - Fabrikant - Maler 80
- Kapitel 8: Kaufmann Block - Kündigung des Advokaten 116
- Kapitel 9: Im Dom 138
- Kapitel 10: Ende 155