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über seine Pflicht etwas hinausgehen konnte. Es ist nämlich nicht zu leugnen,
daß er ein wenig einfältig und im Zusammenhang damit ein wenig eingebildet
ist. Wenn auch seine Äußerungen über seine Macht und über die Macht der
anderen Türhüter und über deren sogar für ihn unerträglichen Anblick - ich
sage, wenn auch alle diese Äußerungen an sich richtig sein mögen, so zeigt
doch die Art, wie er diese Äußerungen vorbringt, daß seine Auffassung durch
Einfalt und Überhebung getrübt ist. Die Erklärer sagen hiezu: ›Richtiges
Auffassen einer Sache und Mißverstehen der gleichen Sache schließen
einander nicht vollständig aus.‹ Jedenfalls aber muß man annehmen, daß jene
Einfalt und Überhebung, so geringfügig sie sich vielleicht auch äußern, doch
die Bewachung des Eingangs schwächen, es sind Lücken im Charakter des
Türhüters. Hiezu kommt noch, daß der Türhüter seiner Naturanlage nach
freundlich zu sein scheint, er ist durchaus nicht immer Amtsperson. Gleich in
den ersten Augenblicken macht er den Spaß, daß er den Mann trotz dem
ausdrücklich aufrechterhaltenen Verbot zum Eintritt einlädt, dann schickt er
ihn nicht etwa fort, sondern gibt ihm, wie es heißt, einen Schemel und läßt ihn
seitwärts von der Tür sich niedersetzen. Die Geduld, mit der er durch alle die
Jahre die Bitten des Mannes erträgt, die kleinen Verhöre, die Annahme der
Geschenke, die Vornehmheit, mit der er es zuläßt, daß der Mann neben ihm
laut den unglücklichen Zufall verflucht, der den Türhüter hier aufgestellt hat -
alles dieses läßt auf Regungen des Mitleids schließen. Nicht jeder Türhüter
hätte so gehandelt. Und schließlich beugt er sich noch auf einen Wink hin tief
zu dem Mann hinab, um ihm Gelegenheit zur letzten Frage zu geben. Nur
eine schwache Ungeduld - der Türhüter weiß ja, daß alles zu Ende ist - spricht
sich in den Worten aus: ›Du bist unersättlich.‹ Manche gehen sogar in dieser
Art der Erklärung noch weiter und meinen, die Worte ›Du bist unersättlich‹
drücken eine Art freundschaftlicher Bewunderung aus, die allerdings von
Herablassung nicht frei ist. Jedenfalls schließt sich so die Gestalt des
Türhüters anders ab, als du es glaubst.« »Du kennst die Geschichte genauer
als ich und längere Zeit«, sagte K. Sie schwiegen ein Weilchen. Dann sagte
K.: »Du glaubst also, der Mann wurde nicht getäuscht?« »Mißverstehe mich
nicht«, sagte der Geistliche, »ich zeige dir nur die Meinungen, die darüber
bestehen. Du mußt nicht zuviel auf Meinungen achten. Die Schrift ist
unveränderlich und die Meinungen sind oft nur ein Ausdruck der
Verzweiflung darüber. In diesem Falle gibt es sogar eine Meinung, nach
welcher gerade der Türhüter der Getäuschte ist.« »Das ist eine weitgehende
Meinung«, sagte K. »Wie wird sie begründet?« »Die Begründung«,
antwortete der Geistliche, »geht von der Einfalt des Türhüters aus. Man sagt,
daß er das Innere des Gesetzes nicht kennt, sondern nur den Weg, den er vor
dem Eingang immer wieder abgehen muß. Die Vorstellungen, die er von dem
Innern hat, werden für kindlich gehalten, und man nimmt an, daß er das,
wovor er dem Manne Furcht machen will, selbst fürchtet. Ja, er fürchtet es
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Der Prozeß
- Title
- Der Prozeß
- Author
- Franz Kafka
- Date
- 1926
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 158
- Keywords
- Roman, Literatur, Schriftsteller, Prozess
- Categories
- Weiteres Belletristik
Table of contents
- Kapitel 1: Verhaftung - Gespräch mit Frau Grubach - Dann Fräulein Bürstner 5
- Kapitel 2: Erste Untersuchung 25
- Kapitel 3: Im leeren Sitzungssaal - Der Student - Die Kanzleien 37
- Kapitel 4: Die Freundin des Fräulein Bürstner 54
- Kapitel 5: Der Prügler 60
- Kapitel 6: Der Onkel - Leni 65
- Kapitel 7: Advokat - Fabrikant - Maler 80
- Kapitel 8: Kaufmann Block - Kündigung des Advokaten 116
- Kapitel 9: Im Dom 138
- Kapitel 10: Ende 155