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Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990
3. Die Entwicklung bis zum Grundlagenvertrag 1972
Nach Abschluss des Staatsvertrags 1955 waren für Österreich theoretisch auch
diplomatische Beziehungen zu beiden deutschen Staaten möglich. Die Bundes-
republik nahm mit Österreich trotz seiner Neutralität Ende 1955 diplomatische
Beziehungen auf, freilich erst nachdem sich Bonn ausreichend vergewissert hatte,
dass Österreich nicht auf sowjetischen Druck auch die DDR anerkennen würde.73
Für Wien war dies aufgrund der westlichen Orientierung und der großen Bedeu-
tung der Wirtschaftsbeziehungen zur Bundesrepublik eine im höchsten Maße
pragmatische Entscheidung der Staatsräson.
Erst als das deutsch-deutsche Verhältnis im Zuge einer Entspannung im Kal-
ten Krieg durch den sogenannten Grundlagenvertrag vom 21. Dezember 1972
geregelt werden konnte, war der Weg für offizielle Beziehungen zwischen Öster-
reich und der DDR frei. Bis dahin war man in Wien unter Berufung auf das
Verhalten anderer neutraler Staaten, wie Schweden und der Schweiz, auf dem
Standpunkt geblieben, in der Frage der Anerkennung kein politisches Präjudiz
schaffen zu wollen. In Österreich trat nur die KPÖ für eine Anerkennung der
DDR ein. In seinen Kontakten zur DDR ging das offizielle Österreich nie über
das von der Bundesrepublik geduldete Maß hinaus, auch wenn immer wieder die
Grenzen ausgelotet wurden. Insbesondere Wirtschaftskreise drängten ab Mitte
der 1960er-Jahre gelegentlich auf engere Beziehungen zur DDR. Inoffizielle poli-
tische Kontakte brachten keine substantielle Annäherung und blieben sogar dem
argwöhnisch über die Einhaltung der Hallstein-Doktrin wachenden Bonner Aus-
wärtigen Amt verborgen. Für Probleme sorgte zudem die Lage der bis zu 20.000 in
der DDR lebenden Österreicher, die in Ermangelung diplomatischer Beziehungen
nicht effektiv vertreten werden konnten. Hier erfolgte die Akzeptanz der Hall-
stein-Doktrin zwar nur sehr widerstrebend
– man unterwarf sich aber weiter die-
ser Priorität der westdeutschen Politik.74 Stellvertretend hierfür sei eine Aussage
des österreichischen Vizekanzlers Bruno Pittermann (SPÖ) in einer Ministerrats-
sitzung im Oktober 1962 zitiert: „Es ist kein Zweifel, daß wir sofort mit der DDR
die gleichen Vereinbarungen treffen könnten, wie mit den anderen Oststaaten.
[…] Aber verhandelt darf nicht werden wegen der BRD. Was ist das für eine Ein-
stellung der Bundesrepublik Deutschland, daß unsere Staatsbürger dort geschä-
digt werden sollen. Irgendjemand muß ihnen doch beistehen.“75
73 Stefan August Lütgenau, Widersprüchliche Gemeinsamkeiten. Das deutsche Österreichbild,
in: Oliver Rathkolb / Otto M.
Maschke / Stefan August Lütgenau (Hg.), Mit anderen Augen gese-
hen. Internationale Perzeptionen Österreichs 1955–1990 (Österreichische Nationalgeschichte
nach 1945 2), Wien / Köln / Weimar 2002, S. 161–198, hier S. 168.
74 Zusammenfassend hierzu: Maximilian Graf, Austria and the GDR 1949–1972. Diplomatic
and Political Contacts in the Period of Non-recognition, in: Arnold Suppan / Maximilian Graf
(Hg.), From the Austrian Empire to Communist East Central Europe (Europa Orientalis 10),
Wien 2010, S. 151–177; ausführlich: idem, Österreich und die DDR.
75 Protokoll der Sitzung des Ministerrates vom 23. Oktober 1962, ÖStA, AdR, Bundeskanzler-
amt (BKA), Ministerratsprotokolle (MRP), 2. Republik Kabinett Gorbach I, Protokoll Nr. 64/
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Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Title
- Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
- Subtitle
- Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Editor
- Michael Gehler
- Maximilian Graf
- Publisher
- Vandenhoeck & Ruprecht Verlage
- Location
- Göttingen
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-35587-5
- Size
- 15.5 x 23.2 cm
- Pages
- 792
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990 7
- I. Vorbemerkungen 7
- II. Ausgangsbedingungen und Vorgeschichte: Von der „doppelten Staatsgründung“ zur Perpetuierung deutscher Zweistaatlichkeit (1949–1987) 11
- 1. Die Entwicklung bis zum Entscheidungs- und Zäsurjahr 1955 11
- 2. Gescheiterte Vermittlungsversuche (1958–1963) 19
- 3. Die Entwicklung bis zum Grundlagenvertrag 1972 23
- 4. Österreich, die europäische Integration und die Anerkennung der DDR im Zeichen der Entspannung (1961–1972) 28
- 5. Das Verhältnis Österreichs zu den beiden deutschen Staaten bis zum Bonn-Besuch Honeckers (1972–1987) 32
- III. Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 38
- 1. Österreich und die scheinbare Stabilität des SED-Regimes 38
- 2. Die Grenzöffnung im Kontext der Langzeitentwicklungen und ihre direkten Folgen 43
- 3. Österreichs Annäherungen an das gemeinschaftliche Europa, die Bundesrepublik und die deutsche Frage 50
- 4. „Mauerfall“ und „Wiedervereinigung“: Die Haltung Österreichs bis Ende 1989 63
- 5. Österreich und die deutsche Frage Anfang 1990 75
- 6. Der Einigungsprozess und seine internationale Durchsetzung aus österreichischer Sicht 86
- 7. Österreichs Abschied von der DDR 92
- 8. Österreich, die deutsche Einheit und der Weg nach Europa – Bilanz und Ausblick 95
- IV. Editorische Vorbemerkungen 99