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Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990
Kreis von CDU-Abgeordneten: „Wir trauten unseren Augen und Ohren nicht. Die
Stimmung war weniger fröhlich denn nachdenklich. Als wir uns verabschiedeten,
sagte ich zu meinen Gastgebern: ‚Jetzt kommt die Wiedervereinigung.‘ Sie wollten
es noch nicht glauben.“236
4. „Mauerfall“ und „Wiedervereinigung“: Die Haltung Österreichs bis Ende 1989
Während Österreichs Botschafter in Bonn und Ost-Berlin im Rahmen der Bot-
schafterkonferenz des Ballhausplatzes am 8. September 1989 die Ansicht ver-
traten, dass „niemand in politischer Verantwortung“ eine „Wiedervereinigung“
anstreben würde,237 sah der in der Zentrale des Wiener Außenamts in der Ab-
teilung „Grundsatzfragen“ tätige Thomas Nowotny Anzeichen dafür. Über die
DDR urteilte er, dass es zwar eine gewisse „Heimatverbundenheit“ gebe, eine
„Natio
nalität“ habe sich aber in dem sozialistischen Staat nicht herausgebildet,
und auf Dauer erwartete er, dass die soziale Sicherheit keine ausreichende Klam-
mer darstellen würde. Für ihn stand daher die „Wiedervereinigung“ zukünftig
„sehr wohl auf der politischen Tagesordnung beider deutscher Staaten“. Der Wes-
ten konnte seiner Ansicht nach formell nichts dagegen einwenden, auch wenn
„natürlich niemand“ eine „Wiedervereinigung“ wolle. Da diesbezügliche Res-
sentiments allerdings nicht offen ausgesprochen wurden, sprach Nowotny von
„eine[r] unein
gestandene[n] stumme[n] Furcht“. Zwar teilte er die auch im Westen
gehegten grundsätzlichen Befürchtungen vor einem geeinten Deutschland nicht,
seine Analyse nahm aber das sich nach dem „Mauerfall“ offenbarende Szenario
sehr treffend vorweg.238 Seitens des Leiters der Ostabteilung des Ballhausplatzes,
Ernst Sucharipa, wurde Nowotnys „Essay“ als „Gespensterbahnfahrt“ bezeich-
net. Er sah darin eine Verniedlichung der „Dimension eines aus der BRD und
DDR bestehenden Deutschlands“, dem „in Ost- (und wohl auch West-) Europa“
weiterhin die „Furcht“, „dass ein solches Gebilde in eine europäische Friedens-
ordnung nicht integriert werden kann“, entgegenstünde. Zudem vertrat er die
Ansicht, dass es in der DDR durchaus eine Mehrheit gebe, die die Existenz des
Staates bejahe.239
So sehr sich in der Folge immer wieder Meinungsverschiedenheiten zwischen
der Ost- und der Westabteilung des Ballhausplatzes zeigen sollten, so klar war,
dass sich die DDR nunmehr dem Wandel in Mittel- und Osteuropa nicht mehr
entziehen konnte. Nach der Grenzöffnung durch Ungarn war immer offensicht-
licher geworden, dass es kaum noch Rückendeckung aus Moskau gab. Daraufhin
236 Friedrich Bauer, Botschafter in zwei deutschen Staaten. Die DDR zwischen Anerkennung und
Auflösung (1973–1990). Die aktive Neutralitätspolitik Österreichs, Wien 2006, S. 266.
237 Siehe Dok. 51a und 51b.
238 Siehe Dok. 57.
239 Siehe Dok. 57, Anm. 1.
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Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Title
- Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
- Subtitle
- Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Editor
- Michael Gehler
- Maximilian Graf
- Publisher
- Vandenhoeck & Ruprecht Verlage
- Location
- Göttingen
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-35587-5
- Size
- 15.5 x 23.2 cm
- Pages
- 792
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990 7
- I. Vorbemerkungen 7
- II. Ausgangsbedingungen und Vorgeschichte: Von der „doppelten Staatsgründung“ zur Perpetuierung deutscher Zweistaatlichkeit (1949–1987) 11
- 1. Die Entwicklung bis zum Entscheidungs- und Zäsurjahr 1955 11
- 2. Gescheiterte Vermittlungsversuche (1958–1963) 19
- 3. Die Entwicklung bis zum Grundlagenvertrag 1972 23
- 4. Österreich, die europäische Integration und die Anerkennung der DDR im Zeichen der Entspannung (1961–1972) 28
- 5. Das Verhältnis Österreichs zu den beiden deutschen Staaten bis zum Bonn-Besuch Honeckers (1972–1987) 32
- III. Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 38
- 1. Österreich und die scheinbare Stabilität des SED-Regimes 38
- 2. Die Grenzöffnung im Kontext der Langzeitentwicklungen und ihre direkten Folgen 43
- 3. Österreichs Annäherungen an das gemeinschaftliche Europa, die Bundesrepublik und die deutsche Frage 50
- 4. „Mauerfall“ und „Wiedervereinigung“: Die Haltung Österreichs bis Ende 1989 63
- 5. Österreich und die deutsche Frage Anfang 1990 75
- 6. Der Einigungsprozess und seine internationale Durchsetzung aus österreichischer Sicht 86
- 7. Österreichs Abschied von der DDR 92
- 8. Österreich, die deutsche Einheit und der Weg nach Europa – Bilanz und Ausblick 95
- IV. Editorische Vorbemerkungen 99