Page - 302 - in Ludwig Feuerbach - Gesammlte Werke, Volume 1
Image of the Page - 302 -
Text of the Page - 302 -
Wirklichkeit selbst ist nicht einzelnes Dasein für sich,
sondern alles Dasein zusammen, alles, wie es eins ist, die
Einheit aller sich gegenseitig kompensierender und inte-
grierender Erscheinungen; und indem also die Wirklichkeit
alle Erscheinungen in Einheit ist, so ist kein Fehler und
Mangel in der Wirklichkeit, denn in der alles einzelne
zusammenfassenden Einheit verschwinden ebendarum
die Negativitäten, Einzelheiten, Mängel, Fehler. In jedem
Schmerze in dir feiert die Gattung den Triumph ihrer
Alleinwirklichkeit; das schmerzliche Gewimmer der Kran-
ken und die letzten Seufzer der Sterbenden, mit denen
sie aus dem Dasein verhallen, sind die Siegesgesänge der
Gattung, in denen sie ihre Realität und siegreiche Herr-
schaft über die einzelne Erscheinung feiert. In deinen
Schmerzen und Seufzern ist mehr Philosophie und Ver-
nunft als in deinem ganzen Verstände; ja, du philoso-
phierst dann allein, wenn du vor Schmerzen stöhnst und
schreist; die einzigen Laute der Weisheit, die aus dir
kommen, sind die Töne des Schmerzes, denn das Wesen,
die Gattung, das absolut vollkommne Allgemeine, dessen
Wirklichkeit in deinem Verstände du verleugnest, affir-
mierst und bejahst du in deinen Schmerzen, diese und
deine Seufzer sind die einzigen ontologischen Argumente,
die du vom Dasein eines Gottes gibst. Die einzigen der-
zeit existierenden Hörsäle der Philosophie sind Spitäler
und Lazarette. Warum ist es ein Mangel in dir, wenn dir
das Auge fehlt? Warum empfindest du Schmerz, wenn es
dir herausgerissen wird? Darum, weil die absolut voll-
kommne Gattung, das Wesen das allein wahrhaft Wirk-
liche ist, weil das Dasein des Fehlers an dir, dieses Etwas
für dich in deiner wirklichen Substanz keine Wirklichkeit,
nichts ist, weil das in dir ist, was nicht sein soll, in der
Wirklichkeit selbst und Wahrheit nicht ist, und du emp-
findest Schmerz, indem dir das Auge ausgerissen wird,
weil du empfindest, daß das Auge, welches dir entrissen
wird, deiner Substanz unentreißbar ist, weil du Schranken
zugleich und Absolutes, Nichtsein und Sein auf einmal
empfindest, d. h. in dem Gefühl des bestimmten Mangels
zugleich das Gefühl der Nichtigkeit deines Einzelseins
überhaupt für sich allein, zugleich das Gefühl der Allein-
herrschaft und Alleinwirklichkeit der in sich selbst voll-
302
Ludwig Feuerbach
Gesammlte Werke, Volume 1
(Gemeinfreie Teile)
- Title
- Ludwig Feuerbach
- Subtitle
- Gesammlte Werke
- Volume
- 1
- Editor
- Werner Schuffenhauer
- Publisher
- AKADEMIE-VERLAG BERLIN
- Date
- 1981
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 11.6 x 17.8 cm
- Pages
- 468
- Category
- Geisteswissenschaften