Page - 542 - in Ludwig Feuerbach - Gesammlte Werke, Volume 1
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Ach, ein wunderschönes Kind ist das Leben, ein Kind,
kaum achtzehn Jahre alt. Wer könnte es uns verargen,
wenn wir von seiner durch das magische Licht des Jugend-
reizes verherrlichten Schönheit schon beim ersten Anblick
so hingerissen werden, daß wir auf der Stelle vor ihm zu
Füßen fallen und ewige Liebe bis in den Tod ihm schwören.
Die Schrift hingegen ist eine Jungfrau, die schon hoch
in den Zwanzigern ist; sie hat schon viel verloren, so schön
sie auch noch ist; sie steht allein da, verlassen von den
treulosen Freunden der Jugendreize; sie hat keine Für-
sprecherin mehr als sich selbst; aber um so heller leuchtet
der Himmel ihres inneren bleibenden Wertes dem Kenner
in die Augen.1
„In aula omnibus abundo, excepta una veritate; alles
habe ich am Hofe im Überfluß, nur die Wahrheit nicht",
sagte ein französischer König, eine Äußerung, die auch
auf das Leben ihre volle Anwendung findet. Die Welt ist
ein schöner, fürstlicher Palast, der Verstand der König,
der aber an seiner Seite zur Mätresse die Phantasie hat,
die eine wahre Pompadour ist; die Sinne sind die Höflinge,
welche die Wahrheit nicht unentstellt vor den Thron ge-
langen lassen. Wer diese finden will, muß sich in die stillen
Lesekabinette und Studierzimmer der Bücher zurückziehen.
Wie vortrefflich äußert sich schon Diodor von Sizilien
über die Schrift, wenn er sagt: „Wer wäre imstande, der
Schreibkunst eine würdige Lobrede zu halten? Denn nur
durch die Schrift erhalten sich die Toten in dem Andenken
der Lebenden und verkehren die Entfernten miteinander,
als stünden sie sich zur Seite. Nur das zuverlässige Zeug-
nis des schriftlichen Wortes verbürgt den Bestand der im
Krieg zwischen Königen oder Völkern geschlossnen Ver-
träge. Nur die Schrift allein bewahrt die köstlichen Ge-
danken der weisen Männer und die Aussprüche der Götter,
ja selbst alle Philosophie und Wissenschaft und übergibt sie
immer von Jahrhundert zu Jahrhundert den kommenden
Geschlechtern. Darum müssen wir wohl die Natur als die
Quelle unsres (physischen) Lebens anerkennen, aber als die
Quelle unsres edlen, unsres geistigen Lebens die Schrift."
1 Ach, ein wunderschönes . . . in die Augen. Fehlt in C.
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Ludwig Feuerbach
Gesammlte Werke, Volume 1
(Gemeinfreie Teile)
- Title
- Ludwig Feuerbach
- Subtitle
- Gesammlte Werke
- Volume
- 1
- Editor
- Werner Schuffenhauer
- Publisher
- AKADEMIE-VERLAG BERLIN
- Date
- 1981
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 11.6 x 17.8 cm
- Pages
- 468
- Category
- Geisteswissenschaften