Page - 545 - in Ludwig Feuerbach - Gesammlte Werke, Volume 1
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Das Leben steht wie ein Kaffeehaus jedem ohne Unter-
schied offen, aber die Literatur ist eine geschlossene Gesell-
schaft, ein enger Verein mit eignen Statuten; nur nach
vorhergegangener Auswahl, Beratung und Unterscheidung
steht uns und unsern Gedanken und Empfindungen der
Zutritt in denselben offen.1
Was wir im Leben nach und nach in kleiner Münze aus-
bezahlt bekommen, worunter sich oft die allerschlechtesten
und abgeschlissensten Zwölfer, Sechser, Groschen und
Kreuzer befinden, die wir uns kaum auszugeben getrauen,
aber gleichwohl im Leben recht gerne angenommen werden,
das erhalten wir in der Schrift in Gold ausbezahlt. Daher
findet es sich denn, daß der Inhalt unseres Lebenssäckels,
ob er gleich einen gewaltigen Bausch macht und wunder
wieviel zu betragen scheint, dennoch, wenn er in die Münz-
sorte ausgewechselt wird, die allein in der Bücherwelt gilt,
oft nur auf ein einziges Goldstück sich reduziert, das wir
ganz bequem in ein kleines Papierchen wickeln und in
unserer Westentasche ohne alle Inkommodität bei uns
tragen können. Das Buch ist der Compte rendu [Bericht-
erstattung], das Fazit unseres Lebensader reine Gewinnst,
der uns von ihm nach Abzug aller Kosten übrigbleibt.
Das Leben ist ein Poet, das Buch ein Philosoph. Jener
beschaut die Einheit in der Mannigfaltigkeit, dieser die
Mannigfaltigkeit in der Einheit. Die Poesie betrachtet aus
einiger Entfernung, um die Reize zu erhöhen und den
Effekt zu verstärken, den Baum, wie er in voller Blüte
dasteht, wie Tausende und abermals Tausende von Blüten
an ihm prangen, und läßt es bei der magischen Kraft dieser
Anschauung bewenden. Aber die Philosophie geht ganz
nahe auf den Baum zu, bricht eine oder höchstens ein paar
Blüten ab — denn diese reichen schon zu ihrem Zwecke
hin, sie kommt mit wenigem aus —, betrachtet sie ganz
genaue, nimmt sie in aller Ruhe mit sich nach Hause,
trocknet sie dann an der Sonne der Vernunft und bewahrt
sie in einem Buche auf. Die Poesie macht uns auch noch
aus dem Tautropfen, der an dem Baume mit schönen
1 Das Leben steht . . . denselben offen. Fehlt in C.
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Ludwig Feuerbach
Gesammlte Werke, Volume 1
(Gemeinfreie Teile)
- Title
- Ludwig Feuerbach
- Subtitle
- Gesammlte Werke
- Volume
- 1
- Editor
- Werner Schuffenhauer
- Publisher
- AKADEMIE-VERLAG BERLIN
- Date
- 1981
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 11.6 x 17.8 cm
- Pages
- 468
- Category
- Geisteswissenschaften