Page - 557 - in Ludwig Feuerbach - Gesammlte Werke, Volume 1
Image of the Page - 557 -
Text of the Page - 557 -
mählich am Feuer der Liebe ihre natürliche Widerspenstig-
keit und Sprödigkeit verlieren, nur dem beständigen, ver-
trauten Liebhaber die Mysterien ihres Wesens enthüllen
und die letzte Gunst erst dann ihm gewähren, wenn er
die härtesten Wasser- und Feuerproben aller Art glücklich
bestanden hat. Darum ist auch die wahre Lektüre — und
was diese ist, erfahren wir eben allein an wahrhaft guten
Büchern — ein Akt der lebensvollsten Innigkeit. Obwohl
wir in der Lektüre nur bei Fremden zu Gaste sind, so ist
es uns doch so wohl, so heimlich, als wären wir bei uns zu
Hause, als wären die lieben Gastgeber schon von Kindsbei-
nen an unsere vertrautesten Stubenkameraden gewesen.
Wir werden in ihr eines andern Wesens als unser eigenstes1
inne, durchdrungen von demselben Entzücken, das Adam
bei dem Anblick der Eva erfuhr.
„Wenn ich Thomson lese", sagt der Engländer Godwin,
„bin ich Thomson, wenn ich Milton lese, bin ich Milton;
ich finde, daß ich eine Art von geistigem Chamäleon bin,
welches die Farben von den Gegenständen annimmt, in
deren Nähe es sich befindet." Und der altdeutsche Denker
Sebastian Frank von Word sagt von den Büchern: „Ihr
einiger rechter Gebrauch sei, daß wir ein Zeugnis unseres
Herzens darinnen suchen."
Die Indier kannten nur eine Seelenwanderung vor und
nach dem Leben. Es gibt aber auch schon im Leben eine
Metempsychose. Diese ist die Lektüre. Beneiden wir dar-
um nicht den Brahminen Amarou, daß er nacheinander
die Gestalten von hundert Weibern annahm und daher so
glücklich war, die Geheimnisse der Liebe im Originaltexte
selbst lesen zu können! Welch ein herrlicher Genuß ist es
nicht, in die Seele eines Plato, eines Goethe sich zu ver-
wandeln ! Freilich — es ist traurig genug — fahren wir auch
auf dieser Seelenwanderung oft in die Seele eines Kamels,
eines Esels und andrer niedriger Geschöpfe. Indes hat es
doch auch seinen großen Nutzen, zu wissen, wie es in der
Seele eines Esels aussieht. Daher hat man mit Recht ge-
sagt, es sei kein Buch so schlecht, aus dem man nicht etwas
lernen könne.
1 unser eigenstes: unseres eigensten C
557
Ludwig Feuerbach
Gesammlte Werke, Volume 1
(Gemeinfreie Teile)
- Title
- Ludwig Feuerbach
- Subtitle
- Gesammlte Werke
- Volume
- 1
- Editor
- Werner Schuffenhauer
- Publisher
- AKADEMIE-VERLAG BERLIN
- Date
- 1981
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 11.6 x 17.8 cm
- Pages
- 468
- Category
- Geisteswissenschaften