Page - 564 - in Ludwig Feuerbach - Gesammlte Werke, Volume 1
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Schriftsteller aus Eitelkeit ihren Namen auf ihre Werke
setzen, so sind sie dennoch dem größten Teile ihrer Mit-
menschen gar nicht oder nur sehr wenig bekannt, wenig-
stens weiß die Nachwelt, welche die Vernunft ebensosehr,
vielleicht noch mehr als die Gegenwart bedenkt, blutwenig
von den Schriftstellern der Vergangenheit, oft kaum mehr
als ihren Todestag, und wenn sie auch noch so viel von
ihnen auf dem Wege der Historie erfahren sollte, so stehen
sie doch in einer solchen Entfernung, daß ihre Sendschrei-
ben an sie nie die Kraft und Bedeutung anonymer Briefe
verlieren.
Das Leben ist ein großes Kirchweihfest. Aus allen Ecken
und Enden kommt zwar das Elend in tausenderlei er-
barmungswürdigen Gestalten zum Vorschein und lagert
sich mittenhin auf dem Wege, aber es macht hier keinen
Eindruck; die Stimme des Elends wird übertönt von dem
Freudenschrei der Kirchweihgäste und der rauschenden
Tanzmusik der Sinne. Das memento mori [Gedenke des
Todes] der Vernunft tritt dem Menschen nur auf Kirch-
höfen lebendig entgegen, und das Buch ist ein Kirchhof,
aber ein Kirchhof, der nicht die toten, sondern die leben-
den Überreste des Menschen, nicht seinen Leichnam, seine
Seele birgt.
In der Lektüre befinden wir uns im Zustande des Som-
nambulismus, aber eines Somnambulismus mit wacher Ver-
nunft; denn in ihr äußern wir außerordentliche Kräfte;
wir sprechen mit fremden Zungen, wir werden frei von
dem sonst uns beherrschenden Gesetze der Gebundenheit
an einen bestimmten Ort und eine bestimmte Zeit; wir
werden entrückt dem Kreise der gemeinen Sinnes Wahr-
nehmungen; wir schauen in das innerste Leben anderer
Menschen hinein, wir werden selbst durch sie mit den
Geistern in Rapport gesetzt. Aber mit welchen Geistern,
lieber Leser? Etwa mit solchen, die „in der Gestalt einer
grauen, wie mit einem Kopfe versehenen WTolkensäule"
die Unsterblichkeit der Seele ad oculos [augenscheinlich]
demonstrieren oder „in einem Fracke und Kanonenstiefeln,
in welche lange Hosen gehen", die adäquate, ausdrucks-
volle Form ihres geistreichen Wesens finden, wie etwa die
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Ludwig Feuerbach
Gesammlte Werke, Volume 1
(Gemeinfreie Teile)
- Title
- Ludwig Feuerbach
- Subtitle
- Gesammlte Werke
- Volume
- 1
- Editor
- Werner Schuffenhauer
- Publisher
- AKADEMIE-VERLAG BERLIN
- Date
- 1981
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 11.6 x 17.8 cm
- Pages
- 468
- Category
- Geisteswissenschaften