Page - 602 - in Ludwig Feuerbach - Gesammlte Werke, Volume 1
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[wohlgemerkt] nicht von andern gelernt, sondern selbst
verfertigt hat, bald in Epigrammen über die Welt und ihr
Getreibe scherzend, bald versunken in philosophische
Betrachtungen, bald — was jedoch sehr selten ist — im
Diskurse mit seinen Brüdern begriffen, die er also in
Gedanken anredet: „Ihr glaubt, euren Lebenszweck er-
reicht zu haben, wenn ihr nur am Ziele eurer Marschroute
seid und hier im Trocknen sitzt. Ihr seid so roh, daß ihr
gleich den Türken nicht begreifen könnt, wie man auch
zu seinem Vergnügen reisen kann, und den einen Sonder-
ling nennt, der eine Fußreise nach Syrakus macht und
sie einen Spaziergang nennt, daß ihr es für Lebensklug-
heit haltet, auf Kosten eurer Augen und Lungen, mit
denen ihr, wenn ihr ankommt, nicht mehr freien Atem
schöpfen könnt, auf euer Ziel zuzurennen. Ihr Toren, die
höhern Güter den niedern opfern, über der fixen Idee eines
Zielpunktes die herrlichsten Naturgenüsse verabsäumen1
nennt ihr Lebensklugheit, nennt ihr gesunde Vernunft.
Die Entfaltung des eignen Wesens ist der Zweck des Le-
bens.2 Denkt nicht, daß der nicht auch andern lebt, der
wahrhaft für3 sich selbst lebt. Laßt den Baum nur Wurzeln
fassen, ohne darnach zu fragen, ob es dem umstehenden
Gestrüppe wohl auch recht ist, daß er sich so breit macht,
räumt nur weg, was seinem Wachstum im Wege steht, die
Früchte kommen schon von selbst, und nach Jahrhunderten
noch wird er den müden Wanderer mit seinem Schatten
erquicken. Spät, vielleicht nie komme ich zwar an das
Ziel, wo ihr schon längst in dulci jubilo [in süßem Jubel]
sitzt. Aber ich bin dafür bei jedem Schritte an meinem
Ziele, in jedem Momente meiner Wanderung ebenso lebens-
froh als lebenssatt; denn was habe ich nicht schon alles
unterwegs gesehen und genossen?"
Vor allem muß ich mich jetzt bei meinen4 nach Standes-
gebühr geehrten und gelehrten Lesegästen, die bis hierher
mir zu folgen die Geduld hatten, höflichst entschuldigen,
daß ich sie so sehr in der Irre und Breite herumgeführt
1 In C folgt Zusatz:, das
2 Die Entfaltung . . . des Lebens. In C hervorgehoben.
3 Fehlt in C.
4 In C, wohl versehentlich: meinem
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Ludwig Feuerbach
Gesammlte Werke, Volume 1
(Gemeinfreie Teile)
- Title
- Ludwig Feuerbach
- Subtitle
- Gesammlte Werke
- Volume
- 1
- Editor
- Werner Schuffenhauer
- Publisher
- AKADEMIE-VERLAG BERLIN
- Date
- 1981
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 11.6 x 17.8 cm
- Pages
- 468
- Category
- Geisteswissenschaften