Page - 618 - in Ludwig Feuerbach - Gesammlte Werke, Volume 1
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Gemüt wie ein Alp drückt, daß ein solcher Mensch an den
edelsten, notwendigsten und allmächtigsten Lebensteilen,
an Kopf und Herz, d. h. an Geist, kerngesund ist und
höchstens nur an den untern Extremitäten der Mensch-
heit, d. h. am Körper, an einem Übel, Podagra genannt,
laboriert, so daß der Podagrist, der Körper, dem Geiste, der
ein Schnelläufer ist, nicht nachkommt, wenngleich nach-
will, und daß folglich diejenigen sich grob irren würden, die
aus dem Podagra des Schriftstellers den wahren Lebens- und
Wesenszustand seiner innern Teile beurteilen wollten.
Wenn jemand bei dem Anblick eines Gemäldes den
Schluß machte: „Wie schön ist dieses Bild! Aber wie schön
muß erst der sein, welcher dieses Bild verfertigte!", so
würden wir laut auflachen. Wenn nun aber bei der Lek-
türe einer Schrift, die uns gefällt und interessiert, uns die
Phantasie, die sich vor allen andern Fakultäten unserer
Seele durch ihre Vielgeschäftigkeit und Naseweisheit bei
jeder Gelegenheit hervortut, ein Porträt von dem Ver-
fasser entwirft und dadurch das Verlangen in uns erweckt,
ihn auch von Person kennenzulernen, machen wir da nicht
oft einen fast ebenso schiefen und lächerlichen Schluß?
Wie sehr hat daher in dieser Beziehung Lord Byron recht,
wenn er an eine Dame, die, begeistert von der Lektüre einer
seiner Schriften, ihm sogar ihre Liebe anbot, folgender-
maßen schreibt: „Sie äußern den Wunsch, mich persön-
lich kennenzulernen, weil meine Werke Ihnen gefallen. Sie
müssen wissen, daß ein Schriftsteller im allgemeinen sehr
verschieden von seinen Werken ist und nie die Erwartungen
derjenigen befriedigt, die in ihm liebenswürdigere Eigen-
schaften als in andern zu finden hoffen. Meine Schrift-
stellereitelkeit wird sicherlich nichts bei dem Gedanken
leiden, daß ein Werk von mir Ihnen einiges Vergnügen ge-
macht hat, und um mich in der günstigen Meinung zu er-
halten, die es Ihnen von mir beigebracht hat, will ich nicht
Gefahr laufen, sie zu verlieren, indem ich mich persön-
lich bekannt mache." Ohne die dem schönen Geschlechte
schuldige Ehrfurcht beiseite zu setzen, müssen wir doch
notgedrungen jener unbekannten Dame eingestehen, daß
uns natürlich deductis deducendis [durch Ableitung des
Abzuleitenden] ihre Urteils- und Schlußkraft, in diesem
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Ludwig Feuerbach
Gesammlte Werke, Volume 1
(Gemeinfreie Teile)
- Title
- Ludwig Feuerbach
- Subtitle
- Gesammlte Werke
- Volume
- 1
- Editor
- Werner Schuffenhauer
- Publisher
- AKADEMIE-VERLAG BERLIN
- Date
- 1981
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 11.6 x 17.8 cm
- Pages
- 468
- Category
- Geisteswissenschaften