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ten, wie den Leibniz, der so ein ausgezeichnetes Gedächtnis
hatte, daß er sich des Aufschreibens nur als eines Mittels
bediente, um etwas für immer seiner Seele einzuprägen,
und daher nie mehr genötigt war, seine Exzerpte nach-
zulesen, vor allem aber wie den französischen Grafen
de Guibert, der die glückliche Eigenschaft hatte, daß er mit
einem wahrhaft intuitiven Blicke, nicht wie unsereiner
Zeile für Zeile, sondern fünf, sechs, ja noch mehr Zeilen
auf einmal lesen, die Ideen bei der Lektüre also nicht ein-
zeln, sondern scharenweise in seinem Kopf einlassen konnte
und von dem es uns daher auch gar nicht wundernehmen
darf, wenn er so unermeßlich viel gelesen hatte, wie uns
der Verfasser der Memoiren Mirabeaus berichtet. Er
gesteht ferner ein, daß er keineswegs dem Byron unbedingt
beipflichtet, wenn er mit vielen andern behauptet, daß
man nur nach der eignen Erfahrung, nicht nach den
Büchern die Menschen beurteilen müsse — denn wie eng
ist der Kreis unserer eignen Erfahrungen? Und wenn er
auch noch so groß wäre, ist die erfahrende Person nicht
immer eine und dieselbe? Haben also ihre Erfahrungen,
so verschiedenartig sie auch sein mögen, nicht immer
einen und denselben, folglich einen beschränkten und
einförmigen Typus? Warum sollen wir nicht die Erfahrun-
gen und Anschauungen anderer, die wir bloß durch Bücher
überkommen, zur Ergänzung, Berichtigung und Erwei-
terung unserer eignen Erfahrung nehmen? —, kurz, daß
er, wenn auch nicht in specie [im besonderen], doch in
genere [im allgemeinen] ein Bücherwurm ist.
Was Quinctüian von dem wahren Redner in Beziehung
auf den Menschen sagt, das gilt auch von dem wahren
Schriftsteller in seinem Verhältnis zum Menschen. Er
sagt aber: „Ich behaupte nicht nur, daß ein Redner ein
guter Mensch sein müsse, sondern ich behaupte sogar, daß
nur ein guter Mensch ein Redner werden kann. Denn man
kann doch wahrlich weder Einsicht denen zugestehen, die
da, wo sie zwischen dem Guten und Bösen zu wählen haben,
sich für das letztere entscheiden, noch Klugheit denen, die
durch die Schuld ihrer eignen Unbesonnenheit, wenn auch
nicht immer die härtesten Strafen der Gesetze, doch gewiß
die des bösen Gewissens sich zuziehen. Wenn nun nicht
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Ludwig Feuerbach
Gesammlte Werke, Volume 1
(Gemeinfreie Teile)
- Title
- Ludwig Feuerbach
- Subtitle
- Gesammlte Werke
- Volume
- 1
- Editor
- Werner Schuffenhauer
- Publisher
- AKADEMIE-VERLAG BERLIN
- Date
- 1981
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 11.6 x 17.8 cm
- Pages
- 468
- Category
- Geisteswissenschaften