Page - 636 - in Ludwig Feuerbach - Gesammlte Werke, Volume 1
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ich Dir eine lange Schilderung machen? —, es war eine
herzzerreißende Szene. Ich konnte unmöglich diesem
schmerzlichen Eindruck Widerstand leisten. Ich mußte ihr
versprechen, noch längere Zeit, wenigstens einige Tage
noch, bei ihr zu bleiben. Oh, mein Teurer, nimm mir diese
Nachgiebigkeit nicht übel, verliere deswegen nicht Dein
Zutrauen zu mir. Bedenke, daß die Liebe für uns Sterb-
liche eine Notwendigkeit ist. Auch zweifle ich nicht, daß
Du meine Schwäche verzeihlicher finden würdest, wenn Du
die Geliebte meines Herzens persönlich kenntest. Du kannst
sie jedoch schon hieraus so ziemlich erkennen und ihren
Charakter beurteilen, wenn ich Dir sage, daß sie alles,
was ich ihr von Dir erzählte, mit dem größten Interesse
immer aufnahm und mit dem lebhaftesten Anteil stets
sich nach Deinem Befinden, Deinem Stande und Charakter,
Deiner Denk- und Lebensart erkundigte, wobei sie die
Neugierde, die ihr aber gewiß in diesem Falle sehr zur
Ehre gereicht wird, so stark peinigt, daß sie alles so recht
im Detail wissen möchte, z. B. ob Du denn auch — freilich
eine komische Frage, aber die sie doch recht bezeichnet —
wie ich ein Liebchen hättest und wie es heiße und aussähe,
wenn ich Dir ferner sage, daß sie selbst schon oft den Wunsch
geäußert hat, wiewohl mit Schüchternheit — denn sie
würde sich in Deiner Gegenwart doch immer etwas geniert
fühlen, was Du ihr aber nicht verdenken kannst —, sie
möchte Dich doch auch recht gerne persönlich kennenlernen.
Ich weiß sogar, daß sie alle Sentenzen und selbst Bon-
mots, die ich aus Deinem Munde hatte und ihr mitteilte,
hinter meinem Rücken in ein eignes Stammbüchlein,
welches sie sich selbst zu diesem Gebrauch machte, ein-
schrieb und sich nicht satt daran lesen konnte. Ja, ich
erinnere mich, daß sie selbst mehrmals wehmütig mir
klagte, sie könne oft ganze lange Nächte kein Auge zutun,
so quäle sie der Gedanke, daß ich Dir aus meiner Liebe
zu ihr noch immer ein Geheimnis mache; sie müsse des-
wegen sogar an der Wahrheit und Tiefe meiner Liebe
zweifeln. ,Wie kann ich deine wahre Freundin sein', sagte
sie zu mir,,wenn ich nicht auch die Freundin deines besten,
deines innigsten Seelenfreundes, wenn ich nicht in euren
Bund mit aufgenommen bin? Oh, stelle mich nur deinem
Freunde vor' — fuhr sie dann im Tone gekränkter Eitelkeit
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Ludwig Feuerbach
Gesammlte Werke, Volume 1
(Gemeinfreie Teile)
- Title
- Ludwig Feuerbach
- Subtitle
- Gesammlte Werke
- Volume
- 1
- Editor
- Werner Schuffenhauer
- Publisher
- AKADEMIE-VERLAG BERLIN
- Date
- 1981
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 11.6 x 17.8 cm
- Pages
- 468
- Category
- Geisteswissenschaften