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sich denn die Lebensweise, welche die Männer der
geistigen Berufe führen, überhaupt noch mit irgend
einem der Instinkte, durch die sich die primitive
Männlichkeit auszeichnet? Das Bureau, das Kontor,
die Kanzlei, das Atelier— lauter Särge der Männ-
lichkeit. Ihre monumentale Grabstätte aber ist die
Großstadt selbst. Hier sind die Gefahren des Lebens
das Element und die hohe Schule der Männlichkeit—
ganz aus dem Wege geräumt; hingegen wirken alle
Einflüsse des Großstadtlebens dahin, jenes Gebrechen
zu fördern, das sich am wenigsten mit dem Charakter
der Männlichkeit verträgt, die Nervenschwäche.
An dieser Wirkung läßt sich erkennen, wie labil
im Grunde der angeblich ein- für allemal feststehende
Geschlechtscharakter ist. Man pflegt das männliche
Nervensystem für widerstandsfähiger zu halten als
das weibliche und einen wichtigen Geschlechtsgegen-
satz darin zu erblicken, daß das weibliche größere
Irritabilität zeigt, das heißt, die Neigung, auf Reize
von außen rascher und ungehemmter zu reagieren.
Was man als „männlichen Sinn" im allgemeinen be-
zeichnet, obgleich es sich keineswegs ausschließlich
beim Manne findet, das Aufsichselbstberuhen, die
Ruhe und Fassung gegenüber äußeren Eindrücken, ist
hauptsächlich auf die Widerstandsfähigkeit des ner-
vösen Apparates zurückzuführen. Die Schwächung
und Überreizung des Nervensystems aber, die das
moderne Großstadtleben erzeugt, steigert die Irrita-
biliät auch beim Manne und verändert auf diese
Weise das Bild des Geschlechtscharakters, das als das
traditionelle der Männlichkeit gilt.
Deshalb ist der vehementeste Angriff auf sie die
typische Großstadtkrankheit, die Neurasthenie. Man
braucht nur die psychischen Erscheinungen, die zum
Krankheitsbild der Neurasthenie gehören, daraufhin
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Zur Kritik der Weiblichkeit
- Title
- Zur Kritik der Weiblichkeit
- Author
- Rosa Mayreder
- Publisher
- Eugen Diederichs Verlag
- Location
- Jena
- Date
- 1922
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 10.5 x 16.5 cm
- Pages
- 316
- Keywords
- Feminismus, Soziologie, Machtverhältnisse, Geschlechterkampf, Frauen
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorwort 1
- Grundzüge 7
- Mutterschaft und Kultur 48
- Die Tyrannei der Norm 85
- Von der Männlichkeit 102
- Das Weib als Dame 139
- Frauen und Frauentypen 157
- Familienliteratur 187
- Der Kanon der schönen Weiblichkeit 199
- Einiges über die starke Faust 210
- Das subjektive Geschlechtsidol 244
- Perspektiven der Individualität 261
- Nachwort 299