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Literatur tritt uns das Weib in einer Fülle von Indi-
vidualitäten entgegen, unter denen es nicht an solchen
fehlt, die wie Kriemhilde oder Isolde oder die Frauen
des französischen Karlsepos sich weit von dem ent-
fernen, was man heute als „Musterbild edler Weiblich-
keit" zu betrachten gewohnt ist.
Dieses Musterbild und die literarischen Vorkehrun-
gen zu seinem Schutze sind erst eine Schöpfung der
Gegenwart. Zwar beklagt sich schon Goethe bei
Eckermann über den Einfluß, den die Anwesenheit
der jungen Mädchen im Theater auf die Bühne aus-
übe; aber seither ist dieser Einfluß ungemessen ins
Breite gewachsen.
Denn nunmehr scheidet sich die Literatur in zwei
getrennte Gebiete. Das eine ist das Gebiet des
freien persönlichen Schaffens, wo die Individualität
des Autors, seine eigene Welt- und Lebenskenntnis
herrscht. Aber der weitaus überwiegende Teil dessen,
was Jahr für Jahr geschrieben und gedruckt wird,
gehört nicht dahin. Jene Verbreitung in Hundert-
tausenden von Exemplaren, die der literarischen
Arbeit erst eine Wirkung ins Große ebenso wie einen
nennenswerten, materiellen Ertrag gewährt — und
das gilt leider ganz besonders von der deutschen
Literatur— ist ein Privilegium des anderen Gebietes,
der sogenannten Familienliteratur.
DerName „Familienliteratur" bedeutet keinen Ehren-
titel, wie jedermann weiß. Nicht die künstlerische
Qualität des Werkes kommt hier in Betracht, kein
künstlerischerGesichtspunkt ist hier maßgebend. Nicht
die Redlichkeit der Beobachtung, nicht die schöpfe-
rische Erfindung, nicht die neuen Probleme, die den
Weg der literarischen Entwicklung bezeichnen. Gleich-
viel,ob es sichumArbeiten belletristischenoder wissen-
schaftlichen Inhaltes handelt, ob es Romane oder Ge-
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Zur Kritik der Weiblichkeit
- Title
- Zur Kritik der Weiblichkeit
- Author
- Rosa Mayreder
- Publisher
- Eugen Diederichs Verlag
- Location
- Jena
- Date
- 1922
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 10.5 x 16.5 cm
- Pages
- 316
- Keywords
- Feminismus, Soziologie, Machtverhältnisse, Geschlechterkampf, Frauen
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorwort 1
- Grundzüge 7
- Mutterschaft und Kultur 48
- Die Tyrannei der Norm 85
- Von der Männlichkeit 102
- Das Weib als Dame 139
- Frauen und Frauentypen 157
- Familienliteratur 187
- Der Kanon der schönen Weiblichkeit 199
- Einiges über die starke Faust 210
- Das subjektive Geschlechtsidol 244
- Perspektiven der Individualität 261
- Nachwort 299