Page - 5 - in Grundlegung zur Metaphysik der Sitten
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Alle Gewerbe, Handwerke und Künste haben durch die Verteilung der
Arbeiten gewonnen, da nämlich nicht einer alles macht, sondern jeder sich auf
gewisse Arbeit, die sich ihrer Behandlungsweise nach von andern merklich
unterscheidet, einschränkt, um sie in der größten Vollkommenheit und mit
mehrerer Leichtigkeit leisten zu können. Wo die Arbeiten so nicht
unterschieden und verteilt werden, wo jeder ein Tausendkünstler ist, da liegen
die Gewerbe noch in der größten Barbarei. Aber ob dieses zwar für sich ein
der Erwägung nicht unwürdiges Objekt wäre, zu fragen: ob die reine
Philosophie in allen ihren Teilen nicht ihren besonderen Mann erheische, und
es um das Ganze des gelehrten Gewerbes nicht besser stehen würde, wenn
die, so das Empirische mit dem Rationalen dem Geschmacke des Publikums
gemäß nach allerlei ihnen selbst unbekannten Verhältnissen gemischt zu
verkaufen gewohnt sind, die sich Selbstdenker, andere aber, die den bloß
rationalen Teil zubereiten, Grübler nennen, gewarnt würden, nicht zwei
Geschäfte zugleich zu treiben, die in der Art, sie zu behandeln, gar sehr
verschieden sind, zu deren jedem vielleicht ein besonderes Talent erfordert
wird, und deren Verbindung in einer Person nur Stümper hervorbringt: so
frage ich hier doch nur, ob nicht die Natur der Wissenschaft es erfordere, den
empirischen von dem rationalen Teil jederzeit sorgfältig abzusondern und vor
der eigentlichen (empirischen) Physik eine Metaphysik der Natur, vor der
praktischen Anthropologie aber eine Metaphysik der Sitten voranzuschicken,
die von allem Empirischen sorgfältig gesäubert sein müssten, um zu wissen,
wie viel reine Vernunft in beiden Fällen leisten könne, und aus welchen
Quellen sie selbst diese ihre Belehrung a priori schöpfe, es mag übrigens das
letztere Geschäfte von allen Sittenlehrern (deren Name Legion heißt) oder nur
von einigen, die Beruf dazu fühlen, getrieben werden.
Da meine Absicht hier eigentlich auf die sittliche Weltweisheit gerichtet ist,
so schränke ich die vorgelegte Frage nur darauf ein: ob man nicht meine, dass
es von der äußersten Notwendigkeit sei, einmal eine reine Moralphilosophie
zu bearbeiten, die von allem, was nur empirisch sein mag und zur
Anthropologie gehört, völlig gesäubert wäre; denn dass es eine solche geben
müsse, leuchtet von selbst aus der gemeinen Idee der Pflicht und der sittlichen
Gesetze ein. Jedermann muss eingestehen, dass ein Gesetz, wenn es
moralisch, d. i. als Grund einer Verbindlichkeit, gelten soll, absolute
Notwendigkeit bei sich führen müsse; dass das Gebot: du sollst nicht lügen,
nicht etwa bloß für Menschen gelte, andere vernünftige Wesen sich aber daran
nicht zu kehren hätten, und so alle übrige eigentliche Sittengesetze; dass
mithin der Grund der Verbindlichkeit hier nicht in der Natur des Menschen,
oder den Umständen in der Welt, darin er gesetzt ist, gesucht werden müsse,
sondern a priori lediglich in Begriffen der reinen Vernunft, und dass jede
andere Vorschrift, die sich auf Prinzipien der bloßen Erfahrung gründet, und
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Grundlegung zur Metaphysik der Sitten
- Title
- Grundlegung zur Metaphysik der Sitten
- Author
- Immanuel Kant
- Date
- 1785
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 70
- Keywords
- Philosophie, Vernunft, Aufklärung, Ethik, Kritik
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorrede 4
- Erster Abschnitt 9
- Zweiter Abschnitt 20
- Übergang von der populären sittlichen Weltweisheit zur Metaphysik der Sitten 20
- Die Autonomie des Willens als oberstes Prinzip der Sittlichkeit 48
- Die Heteronomie des Willens als der Quell aller unechten Prinzipien der Sittlichkeit 49
- Einteilung aller möglichen Prinzipien der Sittlichkeit aus dem angenommenen Grundbegriffe der Heteronomie 50
- Dritter Abschnitt 54
- Übergang von der Metaphysik der Sitten zur Kritik der reinen praktischen Vernunft. Der Begriff der Freiheit ist der Schlüssel zur Erklärung der Autonomie des Willens 54
- Freiheit muss als Eigenschaft des Willens aller vernünftigen Wesen vorausgesetzt werden 56
- Von dem Interesse, welches den Ideen der Sittlichkeit anhängt 57
- Wie ist ein kategorischer Imperativ möglich? 61
- Von der äußersten Grenze aller praktischen Philosophie 63
- Schlussanmerkung 70