Page - 12 - in Grundlegung zur Metaphysik der Sitten
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zu allem Übrigen, selbst allem Verlangen nach Glückseligkeit die Bedingung
sein, in welchem Falle es sich mit der Weisheit der Natur gar wohl vereinigen
lässt, wenn man wahrnimmt, dass die Kultur der Vernunft, die zur erstern und
unbedingten Absicht erforderlich ist, die Erreichung der zweiten, die jederzeit
bedingt ist, nämlich der Glückseligkeit, wenigstens in diesem Leben auf
mancherlei Weise einschränke, ja sie selbst unter Nichts herabbringen könne,
ohne dass die Natur darin unzweckmäßig verfahre, weil die Vernunft, die ihre
höchste praktische Bestimmung in der Gründung eines guten Willens erkennt,
bei Erreichung dieser Absicht nur einer Zufriedenheit nach ihrer eigenen Art,
nämlich aus der Erfüllung eines Zwecks, den wiederum nur Vernunft
bestimmt, fähig ist, sollte dieses auch mit manchem Abbruch, der den
Zwecken der Neigung geschieht, verbunden sein.
Um aber den Begriff eines an sich selbst hochzuschätzenden und ohne
weitere Absicht guten Willens, so wie er schon dem natürlichen gesunden
Verstande beiwohnt und nicht sowohl gelehrt als vielmehr nur aufgeklärt zu
werden bedarf, diesen Begriff, der in der Schätzung des ganzen Werts unserer
Handlungen immer obenan steht und die Bedingung alles übrigen ausmacht,
zu entwickeln: wollen wir den Begriff der Pflicht vor uns nehmen, der den
eines guten Willens, obzwar unter gewissen subjektiven Einschränkungen und
Hindernissen, enthält, die aber doch, weit gefehlt dass sie ihn verstecken und
unkenntlich machen sollten, ihn vielmehr durch Abstechung heben und desto
heller hervorscheinen lassen.
Ich übergehe hier alle Handlungen, die schon als pflichtwidrig erkannt
werden, ob sie gleich in dieser oder jener Absicht nützlich sein mögen; denn
bei denen ist gar nicht einmal die Frage, ob sie aus Pflicht geschehen sein
mögen, da sie dieser sogar widerstreiten. Ich setze auch die Handlungen bei
Seite, die wirklich pflichtmäßig sind, zu denen aber Menschen unmittelbar
keine Neigung haben, sie aber dennoch ausüben, weil sie durch eine andere
Neigung dazu getrieben werden. Denn da lässt sich leicht unterscheiden, ob
die pflichtmäßige Handlung aus Pflicht oder aus selbstsüchtiger Absicht
geschehen sei. Weit schwerer ist dieser Unterschied zu bemerken, wo die
Handlung pflichtmäßig ist und das Subjekt noch überdem unmittelbare
Neigung zu ihr hat. Z. B. ist es allerdings pflichtmäßig, dass der Krämer
seinen unerfahrnen Käufer nicht überteure, und, wo viel Verkehr ist, tut dieses
auch der kluge Kaufmann nicht, sondern hält einen festgesetzten allgemeinen
Preis für jedermann, so dass ein Kind eben so gut bei ihm kauft, als jeder
andere. Man wird also ehrlich bedient; allein das ist lange nicht genug, um
deswegen zu glauben, der Kaufmann habe aus Pflicht und Grundsätzen der
Ehrlichkeit so verfahren; sein Vorteil erforderte es; dass er aber überdem noch
eine unmittelbare Neigung zu den Käufern haben sollte, um gleichsam aus
Liebe keinem vor dem andern im Preise den Vorzug zu geben, lässt sich hier
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Grundlegung zur Metaphysik der Sitten
- Title
- Grundlegung zur Metaphysik der Sitten
- Author
- Immanuel Kant
- Date
- 1785
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 70
- Keywords
- Philosophie, Vernunft, Aufklärung, Ethik, Kritik
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorrede 4
- Erster Abschnitt 9
- Zweiter Abschnitt 20
- Übergang von der populären sittlichen Weltweisheit zur Metaphysik der Sitten 20
- Die Autonomie des Willens als oberstes Prinzip der Sittlichkeit 48
- Die Heteronomie des Willens als der Quell aller unechten Prinzipien der Sittlichkeit 49
- Einteilung aller möglichen Prinzipien der Sittlichkeit aus dem angenommenen Grundbegriffe der Heteronomie 50
- Dritter Abschnitt 54
- Übergang von der Metaphysik der Sitten zur Kritik der reinen praktischen Vernunft. Der Begriff der Freiheit ist der Schlüssel zur Erklärung der Autonomie des Willens 54
- Freiheit muss als Eigenschaft des Willens aller vernünftigen Wesen vorausgesetzt werden 56
- Von dem Interesse, welches den Ideen der Sittlichkeit anhängt 57
- Wie ist ein kategorischer Imperativ möglich? 61
- Von der äußersten Grenze aller praktischen Philosophie 63
- Schlussanmerkung 70