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nicht annehmen. Also war die Handlung weder aus Pflicht, noch aus
unmittelbarer Neigung, sondern bloß in eigennütziger Absicht geschehen.
Dagegen sein Leben zu erhalten, ist Pflicht, und überdem hat jedermann
dazu noch eine unmittelbare Neigung. Aber um deswillen hat die oft
ängstliche Sorgfalt, die der größte Teil der Menschen dafür trägt, doch keinen
innern Wert und die Maxime derselben keinen moralischen Gehalt. Sie
bewahren ihr Leben zwar pflichtmäßig aber nicht aus Pflicht. Dagegen wenn
Widerwärtigkeiten und hoffnungsloser Gram den Geschmack am Leben
gänzlich weggenommen haben; wenn der Unglückliche, stark an Seele, über
sein Schicksal mehr entrüstet als kleinmütig oder niedergeschlagen, den Tod
wünscht und sein Leben doch erhält, ohne es zu lieben, nicht aus Neigung
oder Furcht, sondern aus Pflicht: alsdann hat seine Maxime einen moralischen
Gehalt.
Wohltätig sein, wo man kann, ist Pflicht, und überdem gibt es manche so
teilnehmend gestimmte Seelen, dass sie auch ohne einen andern
Bewegungsgrund der Eitelkeit oder des Eigennutzes ein inneres Vergnügen
daran finden, Freude um sich zu verbreiten, und die sich an der Zufriedenheit
anderer, so fern sie ihr Werk ist, ergötzen können. Aber ich behaupte, dass in
solchem Falle dergleichen Handlung, so pflichtmäßig, so liebenswürdig sie
auch ist, dennoch keinen wahren sittlichen Wert habe, sondern mit andern
Neigungen zu gleichen Paaren gehe, z. E. der Neigung nach Ehre, die, wenn
sie glücklicherweise auf das trifft, was in der Tat gemeinnützig und
pflichtmäßig, mithin ehrenwert ist, Lob und Aufmunterung, aber nicht
Hochschätzung verdient; denn der Maxime fehlt der sittliche Gehalt, nämlich
solche Handlungen nicht aus Neigung, sondern aus Pflicht zu tun. Gesetzt
also, das Gemüt jenes Menschenfreundes wäre vom eigenen Gram umwölkt,
der alle Teilnehmung an anderer Schicksal auslöscht, er hätte immer noch
Vermögen, andern Notleidenden wohlzutun, aber fremde Not rührte ihn nicht,
weil er mit seiner eigenen genug beschäftigt ist, und nun, da keine Neigung
ihn mehr dazu anreizt, risse er sich doch aus dieser tödlichen
Unempfindlichkeit heraus und täte die Handlung ohne alle Neigung, lediglich
aus Pflicht, alsdann hat sie allererst ihren echten moralischen Wert. Noch
mehr: wenn die Natur diesem oder jenem überhaupt wenig Sympathie ins
Herz gelegt hätte, wenn er (übrigens ein ehrlicher Mann) von Temperament
kalt und gleichgültig gegen die Leiden anderer wäre, vielleicht weil er, selbst
gegen seine eigene mit der besondern Gabe der Geduld und aushaltenden
Stärke versehen, dergleichen bei jedem andern auch voraussetzt, oder gar
fordert; wenn die Natur einen solchen Mann (welcher wahrlich nicht ihr
schlechtestes Produkt sein würde) nicht eigentlich zum Menschenfreunde
gebildet hätte, würde er denn nicht noch in sich einen Quell finden, sich selbst
einen weit höhern Wert zu geben, als der eines gutartigen Temperaments sein
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Grundlegung zur Metaphysik der Sitten
- Title
- Grundlegung zur Metaphysik der Sitten
- Author
- Immanuel Kant
- Date
- 1785
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 70
- Keywords
- Philosophie, Vernunft, Aufklärung, Ethik, Kritik
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorrede 4
- Erster Abschnitt 9
- Zweiter Abschnitt 20
- Übergang von der populären sittlichen Weltweisheit zur Metaphysik der Sitten 20
- Die Autonomie des Willens als oberstes Prinzip der Sittlichkeit 48
- Die Heteronomie des Willens als der Quell aller unechten Prinzipien der Sittlichkeit 49
- Einteilung aller möglichen Prinzipien der Sittlichkeit aus dem angenommenen Grundbegriffe der Heteronomie 50
- Dritter Abschnitt 54
- Übergang von der Metaphysik der Sitten zur Kritik der reinen praktischen Vernunft. Der Begriff der Freiheit ist der Schlüssel zur Erklärung der Autonomie des Willens 54
- Freiheit muss als Eigenschaft des Willens aller vernünftigen Wesen vorausgesetzt werden 56
- Von dem Interesse, welches den Ideen der Sittlichkeit anhängt 57
- Wie ist ein kategorischer Imperativ möglich? 61
- Von der äußersten Grenze aller praktischen Philosophie 63
- Schlussanmerkung 70