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Prinzipien derselben, die man nicht sieht.
Man kann auch denen, die alle Sittlichkeit als bloßes Hirngespinst einer
durch Eigendünkel sich selbst übersteigenden menschlichen Einbildung
verlachen, keinen gewünschteren Dienst tun, als ihnen einzuräumen, dass die
Begriffe der Pflicht (so wie man sich auch aus Gemächlichkeit gerne
überredet, dass es auch mit allen übrigen Begriffen bewandt sei) lediglich aus
der Erfahrung gezogen werden mussten; denn da bereitet man jenen einen
sichern Triumph. Ich will aus Menschenliebe einräumen, dass noch die
meisten unserer Handlungen pflichtmäßig seien; sieht man aber ihr Tichten
und Trachten näher an, so stößt man allenthalben auf das liebe Selbst, was
immer hervorsticht, worauf und nicht auf das strenge Gebot der Pflicht,
welches mehrmals Selbstverleugnung erfordern würde, sich ihre Absicht
stützt. Man braucht auch eben kein Feind der Tugend, sondern nur ein
kaltblütiger Beobachter zu sein, der den lebhaftesten Wunsch für das Gute
nicht sofort für dessen Wirklichkeit hält, um (vornehmlich mit zunehmenden
Jahren und einer durch Erfahrung teils gewitzigten, teils zum Beobachten
geschärften Urteilskraft) in gewissen Augenblicken zweifelhaft zu werden, ob
auch wirklich in der Welt irgend wahre Tugend angetroffen werde. Und hier
kann uns nun nichts vor dem gänzlichen Abfall von unseren Ideen der Pflicht
bewahren und gegründete Achtung gegen ihr Gesetz in der Seele erhalten, als
die klare Überzeugung, dass, wenn es auch niemals Handlungen gegeben
habe, die aus solchen reinen Quellen entsprungen wären, dennoch hier auch
davon gar nicht die Rede sei, ob dies oder jenes geschehe, sondern die
Vernunft für sich selbst und unabhängig von allen Erscheinungen gebiete, was
geschehen soll, mithin Handlungen, von denen die Welt vielleicht bisher noch
gar kein Beispiel gegeben hat, an deren Tunlichkeit sogar der, so alles auf
Erfahrung gründet, sehr zweifeln möchte, dennoch durch Vernunft
unnachlässlich geboten seien, und dass z. B. reine Redlichkeit in der
Freundschaft um nichts weniger von jedem Menschen gefordert werden
könne, wenn es gleich bis jetzt gar keinen redlichen Freund gegeben haben
möchte, weil diese Pflicht als Pflicht überhaupt vor aller Erfahrung in der Idee
einer den Willen durch Gründe a priori bestimmenden Vernunft liegt.
Setzt man hinzu, dass, wenn man dem Begriffe von Sittlichkeit nicht gar
alle Wahrheit und Beziehung auf irgend ein mögliches Objekt bestreiten will,
man nicht in Abrede ziehen könne, dass sein Gesetz von so ausgebreiteter
Bedeutung sei, dass es nicht bloß für Menschen, sondern alle vernünftige
Wesen überhaupt, nicht bloß unter zufälligen Bedingungen und mit
Ausnahmen, sondern schlechterdings notwendig gelten müsse: so ist klar,
dass keine Erfahrung, auch nur auf die Möglichkeit solcher apodiktischen
Gesetze zu schließen, Anlass geben könne. Denn mit welchem Rechte können
wir das, was vielleicht nur unter den zufälligen Bedingungen der Menschheit
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Grundlegung zur Metaphysik der Sitten
- Title
- Grundlegung zur Metaphysik der Sitten
- Author
- Immanuel Kant
- Date
- 1785
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 70
- Keywords
- Philosophie, Vernunft, Aufklärung, Ethik, Kritik
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorrede 4
- Erster Abschnitt 9
- Zweiter Abschnitt 20
- Übergang von der populären sittlichen Weltweisheit zur Metaphysik der Sitten 20
- Die Autonomie des Willens als oberstes Prinzip der Sittlichkeit 48
- Die Heteronomie des Willens als der Quell aller unechten Prinzipien der Sittlichkeit 49
- Einteilung aller möglichen Prinzipien der Sittlichkeit aus dem angenommenen Grundbegriffe der Heteronomie 50
- Dritter Abschnitt 54
- Übergang von der Metaphysik der Sitten zur Kritik der reinen praktischen Vernunft. Der Begriff der Freiheit ist der Schlüssel zur Erklärung der Autonomie des Willens 54
- Freiheit muss als Eigenschaft des Willens aller vernünftigen Wesen vorausgesetzt werden 56
- Von dem Interesse, welches den Ideen der Sittlichkeit anhängt 57
- Wie ist ein kategorischer Imperativ möglich? 61
- Von der äußersten Grenze aller praktischen Philosophie 63
- Schlussanmerkung 70