Page - 22 - in Grundlegung zur Metaphysik der Sitten
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gültig ist, als allgemeine Vorschrift für jede vernünftige Natur in
unbeschränkte Achtung bringen, und wie sollen Gesetze der Bestimmung
unseres Willens für Gesetze der Bestimmung des Willens eines vernünftigen
Wesens überhaupt und nur als solche auch für den unsrigen gehalten werden,
wenn sie bloß empirisch wären und nicht völlig a priori aus reiner, aber
praktischer Vernunft ihren Ursprung nähmen?
Man könnte auch der Sittlichkeit nicht übler raten, als wenn man sie von
Beispielen entlehnen wollte. Denn jedes Beispiel, was mir davon vorgestellt
wird, muss selbst zuvor nach Prinzipien der Moralität beurteilt werden, ob es
auch würdig sei, zum ursprünglichen Beispiele, d. i. zum Muster, zu dienen,
keineswegs aber kann es den Begriff derselben zu oberst an die Hand geben.
Selbst der Heilige des Evangellii muss zuvor mit unserm Ideal der sittlichen
Vollkommenheit verglichen werden, ehe man ihn dafür erkennt; auch sagt er
von sich selbst: was nennt ihr mich (den ihr sehet) gut? niemand ist gut (das
Urbild des Guten) als der einige Gott (den ihr nicht sehet). Woher haben wir
aber den Begriff von Gott als dem höchsten Gut? Lediglich aus der Idee, die
die Vernunft a priori von sittlicher Vollkommenheit entwirft und mit dem
Begriffe eines freien Willens unzertrennlich verknüpft. Nachahmung findet
im Sittlichen gar nicht statt, und Beispiele dienen nur zur Aufmunterung, d. i.
sie setzen die Tunlichkeit dessen, was das Gesetz gebietet, außer Zweifel, sie
machen das, was die praktische Regel allgemeiner ausdrückt, anschaulich,
können aber niemals berechtigen, ihr wahres Original, das in der Vernunft
liegt, bei Seite zu setzen und sich nach Beispielen zu richten.
Wenn es denn keinen ächten obersten Grundsatz der Sittlichkeit gibt, der
nicht unabhängig von aller Erfahrung bloß auf reiner Vernunft beruhen
müsste, so glaube ich, es sei nicht nötig, auch nur zu fragen, ob es gut sei,
diese Begriffe, so wie sie samt den ihnen zugehörigen Prinzipien a priori
feststehen, im Allgemeinen (in abstracto) vorzutragen, wofern das Erkenntnis
sich vom gemeinen unterscheiden und philosophisch heißen soll. Aber in
unsern Zeiten möchte dieses wohl nötig sein. Denn wenn man Stimmen
sammelte, ob reine von allem Empirischen abgesonderte Vernunfterkenntnis,
mithin Metaphysik der Sitten, oder populäre praktische Philosophie
vorzuziehen sei, so errät man bald, auf welche Seite das Übergewicht fallen
werde.
Diese Herablassung zu Volksbegriffen ist allerdings sehr rühmlich, wenn
die Erhebung zu den Prinzipien der reinen Vernunft zuvor geschehen und zur
völligen Befriedigung erreicht ist, und das würde heißen, die Lehre der Sitten
zuvor auf Metaphysik gründen, ihr aber, wenn sie fest steht, nachher durch
Popularität Eingang verschaffen. Es ist aber äußerst ungereimt, dieser in der
ersten Untersuchung, worauf alle Richtigkeit der Grundsätze ankommt, schon
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Grundlegung zur Metaphysik der Sitten
- Title
- Grundlegung zur Metaphysik der Sitten
- Author
- Immanuel Kant
- Date
- 1785
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 70
- Keywords
- Philosophie, Vernunft, Aufklärung, Ethik, Kritik
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorrede 4
- Erster Abschnitt 9
- Zweiter Abschnitt 20
- Übergang von der populären sittlichen Weltweisheit zur Metaphysik der Sitten 20
- Die Autonomie des Willens als oberstes Prinzip der Sittlichkeit 48
- Die Heteronomie des Willens als der Quell aller unechten Prinzipien der Sittlichkeit 49
- Einteilung aller möglichen Prinzipien der Sittlichkeit aus dem angenommenen Grundbegriffe der Heteronomie 50
- Dritter Abschnitt 54
- Übergang von der Metaphysik der Sitten zur Kritik der reinen praktischen Vernunft. Der Begriff der Freiheit ist der Schlüssel zur Erklärung der Autonomie des Willens 54
- Freiheit muss als Eigenschaft des Willens aller vernünftigen Wesen vorausgesetzt werden 56
- Von dem Interesse, welches den Ideen der Sittlichkeit anhängt 57
- Wie ist ein kategorischer Imperativ möglich? 61
- Von der äußersten Grenze aller praktischen Philosophie 63
- Schlussanmerkung 70