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willfahren zu wollen. Nicht allein dass dieses Verfahren auf das höchst seltene
Verdienst einer wahren philosophischen Popularität niemals Anspruch
machen kann, indem es gar keine Kunst ist, gemeinverständlich zu sein, wenn
man dabei auf alle gründliche Einsicht Verzicht tut, so bringt es einen
ekelhaften Mischmasch von zusammengestoppelten Beobachtungen und
halbvernünftelnden Prinzipien zum Vorschein, daran sich schale Köpfe laben,
weil es doch etwas gar Brauchbares fürs alltägliche Geschwätz ist, wo
Einsehende aber Verwirrung fühlen und unzufrieden, ohne sich doch helfen
zu können, ihre Augen wegwenden, obgleich Philosophen, die das Blendwerk
ganz wohl durchschauen, wenig Gehör finden, wenn sie auf einige Zeit von
der vorgeblichen Popularität abrufen, um nur allererst nach erworbener
bestimmter Einsicht mit Recht populär sein zu dürfen.
Man darf nur die Versuche über die Sittlichkeit in jenem beliebten
Geschmacke ansehen, so wird man bald die besondere Bestimmung der
menschlichen Natur (mitunter aber auch die Idee von einer vernünftigen
Natur überhaupt), bald Vollkommenheit, bald Glückseligkeit, hier moralisches
Gefühl, dort Gottesfurcht, von diesem etwas, von jenem auch etwas in
wunderbarem Gemische antreffen, ohne dass man sich einfallen lässt zu
fragen, ob auch überall in der Kenntnis der menschlichen Natur (die wir doch
nur von der Erfahrung herhaben können) die Prinzipien der Sittlichkeit zu
suchen seien, und, wenn dieses nicht ist, wenn die letztere völlig a priori, frei
von allem Empirischen, schlechterdings in reinen Vernunftbegriffen und
nirgends anders auch nicht dem mindesten Teile nach anzutreffen sind, den
Anschlag zu fassen, diese Untersuchung als reine praktische Weltweisheit,
oder (wenn man einen verschrieenen Namen nennen darf) als Metaphysik der
Sitten lieber ganz abzusondern, sie für sich allein zu ihrer ganzen
Vollständigkeit zu bringen und das Publikum, das Popularität verlangt, bis
zum Ausgange dieses Unternehmens zu vertrösten.
Es ist aber eine solche völlig isolierte Metaphysik der Sitten, die mit keiner
Anthropologie, mit keiner Theologie, mit keiner Physik oder Hyperphysik,
noch weniger mit verborgenen Qualitäten (die man hypophysisch nennen
könnte) vermischt ist, nicht allein ein unentbehrliches Substrat aller
theoretischen, sicher bestimmten Erkenntnis der Pflichten, sondern zugleich
ein Desiderat von der höchsten Wichtigkeit zur wirklichen Vollziehung ihrer
Vorschriften. Denn die reine und mit keinem fremden Zusatze von
empirischen Anreizen vermischte Vorstellung der Pflicht und überhaupt des
sittlichen Gesetzes hat auf das menschliche Herz durch den Weg der Vernunft
allein (die hierbei zuerst inne wird, dass sie für sich selbst auch praktisch sein
kann) einen so viel mächtigern Einfluss, als alle andere Triebfedern, die man
aus dem empirischen Felde aufbieten mag, dass sie im Bewusstsein ihrer
Würde die letzteren verachtet und nach und nach ihr Meister werden kann; an
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Grundlegung zur Metaphysik der Sitten
- Title
- Grundlegung zur Metaphysik der Sitten
- Author
- Immanuel Kant
- Date
- 1785
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 70
- Keywords
- Philosophie, Vernunft, Aufklärung, Ethik, Kritik
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorrede 4
- Erster Abschnitt 9
- Zweiter Abschnitt 20
- Übergang von der populären sittlichen Weltweisheit zur Metaphysik der Sitten 20
- Die Autonomie des Willens als oberstes Prinzip der Sittlichkeit 48
- Die Heteronomie des Willens als der Quell aller unechten Prinzipien der Sittlichkeit 49
- Einteilung aller möglichen Prinzipien der Sittlichkeit aus dem angenommenen Grundbegriffe der Heteronomie 50
- Dritter Abschnitt 54
- Übergang von der Metaphysik der Sitten zur Kritik der reinen praktischen Vernunft. Der Begriff der Freiheit ist der Schlüssel zur Erklärung der Autonomie des Willens 54
- Freiheit muss als Eigenschaft des Willens aller vernünftigen Wesen vorausgesetzt werden 56
- Von dem Interesse, welches den Ideen der Sittlichkeit anhängt 57
- Wie ist ein kategorischer Imperativ möglich? 61
- Von der äußersten Grenze aller praktischen Philosophie 63
- Schlussanmerkung 70