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Die Imperativen, der Klugheit würden, wenn es nur so leicht wäre, einen
bestimmten Begriff von Glückseligkeit zu geben, mit denen der
Geschicklichkeit ganz und gar übereinkommen und eben sowohl analytisch
sein. Denn es würde eben sowohl hier als dort heißen: wer den Zweck will,
will auch (der Vernunft gemäß notwendig) die einzigen Mittel, die dazu in
seiner Gewalt sind. Allein es ist ein Unglück, dass der Begriff der
Glückseligkeit ein so unbestimmter Begriff ist, dass, obgleich jeder Mensch
zu dieser zu gelangen wünscht, er doch niemals bestimmt und mit sich selbst
einstimmig sagen kann, was er eigentlich wünsche und wolle. Die Ursache
davon ist: dass alle Elemente, die zum Begriff der Glückseligkeit gehören,
insgesamt empirisch sind, d. i. aus der Erfahrung müssen entlehnt werden,
dass gleichwohl zur Idee der Glückseligkeit ein absolutes Ganze, ein
Maximum des Wohlbefindens, in meinem gegenwärtigen und jedem
zukünftigen Zustande erforderlich ist. Nun ists unmöglich, dass das
einsehendste und zugleich allervermögendste, aber doch endliche Wesen sich
einen bestimmten Begriff von dem mache, was er hier eigentlich wolle. Will
er Reichtum, wie viel Sorge, Neid und Nachstellung könnte er sich dadurch
nicht auf den Hals ziehen! Will er viel Erkenntnis und Einsicht, vielleicht
könnte das ein nur um desto schärferes Auge werden, um die Übel, die sich
für ihn jetzt noch verbergen und doch nicht vermieden werden können, ihm
nur um desto schrecklicher zu zeigen, oder seinen Begierden, die ihm schon
genug zu schaffen machen, noch mehr Bedürfnisse aufzubürden. Will er ein
langes Leben, wer steht ihm dafür, dass es nicht ein langes Elend sein würde?
Will er wenigstens Gesundheit, wie oft hat noch Ungemächlichkeit des
Körpers von Ausschweifung abgehalten, darein unbeschränkte Gesundheit
würde haben fallen lassen, u. s. w. Kurz, er ist nicht vermögend, nach irgend
einem Grundsatze mit völliger Gewissheit zu bestimmen, was ihn wahrhaftig
glücklich machen werde, darum weil hiezu Unwissenheit erforderlich sein
würde. Man kann also nicht nach bestimmten Prinzipien handeln, um
glücklich zu sein, sondern nur nach empirischen Rathschlägen, z. B. der Diät,
der Sparsamkeit, der Höflichkeit, der Zurückhaltung u. s. w., von welchen die
Erfahrung lehrt, dass sie das Wohlbefinden im Durchschnitt am meisten
befördern. Hieraus folgt, dass die Imperativen der Klugheit, genau zu reden,
gar nicht gebieten, d. i. Handlungen Objektiv als praktisch-notwendig
darstellen, können, dass sie eher für Anratungen (consilia) als Gebote
(praecepta) der Vernunft zu halten sind, dass die Aufgabe: sicher und
allgemein zu bestimmen, welche Handlung die Glückseligkeit eines
vernünftigen Wesens befördern werde, völlig unauflöslich, mithin kein
Imperativ in Ansehung derselben möglich sei, der im strengen Verstande
geböte, das zu tun, was glücklich macht, weil Glückseligkeit nicht ein Ideal
der Vernunft, sondern der Einbildungskraft ist, was bloß auf empirischen
Gründen beruht, von denen man vergeblich erwartet, dass sie eine Handlung
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Grundlegung zur Metaphysik der Sitten
- Title
- Grundlegung zur Metaphysik der Sitten
- Author
- Immanuel Kant
- Date
- 1785
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 70
- Keywords
- Philosophie, Vernunft, Aufklärung, Ethik, Kritik
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorrede 4
- Erster Abschnitt 9
- Zweiter Abschnitt 20
- Übergang von der populären sittlichen Weltweisheit zur Metaphysik der Sitten 20
- Die Autonomie des Willens als oberstes Prinzip der Sittlichkeit 48
- Die Heteronomie des Willens als der Quell aller unechten Prinzipien der Sittlichkeit 49
- Einteilung aller möglichen Prinzipien der Sittlichkeit aus dem angenommenen Grundbegriffe der Heteronomie 50
- Dritter Abschnitt 54
- Übergang von der Metaphysik der Sitten zur Kritik der reinen praktischen Vernunft. Der Begriff der Freiheit ist der Schlüssel zur Erklärung der Autonomie des Willens 54
- Freiheit muss als Eigenschaft des Willens aller vernünftigen Wesen vorausgesetzt werden 56
- Von dem Interesse, welches den Ideen der Sittlichkeit anhängt 57
- Wie ist ein kategorischer Imperativ möglich? 61
- Von der äußersten Grenze aller praktischen Philosophie 63
- Schlussanmerkung 70