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Denkungsart in Aufsuchung des Prinzips unter empirischen Bewegursachen
und Gesetzen kann man auch nicht zu viel und zu oft Warnungen ergehen
lassen, indem die menschliche Vernunft in ihrer Ermüdung gern auf diesem
Polster ausruht und in dem Traume süßer Vorspiegelungen (die sie doch statt
der Juno eine Wolke umarmen lassen) der Sittlichkeit einen aus Gliedern ganz
verschiedener Abstammung zusammengeflickten Bastard unterschiebt, der
allem ähnlich sieht, was man daran sehen will, nur der Tugend nicht für den,
der sie einmal in ihrer wahren Gestalt erblickt hat.
Die Frage ist also diese: ist es ein notwendiges Gesetz für alle vernünftige
Wesen, ihre Handlungen jederzeit nach solchen Maximen zu beurteilen, von
denen sie selbst wollen können, dass sie zu allgemeinen Gesetzen dienen
sollen? Wenn es ein solches ist, so muss es (völlig a priori) schon mit dem
Begriffe des Willens eines vernünftigen Wesens überhaupt verbunden sein.
Um aber diese Verknüpfung zu entdecken, muss man, so sehr man sich auch
sträubt, einen Schritt hinaus tun, nämlich zur Metaphysik, obgleich in ein
Gebiet derselben, welches von dem der spekulativen Philosophie
unterschieden ist, nämlich in die Metaphysik der Sitten. In einer praktischen
Philosophie, wo es uns nicht darum zu tun ist, Gründe anzunehmen von dem,
was geschieht, sondern Gesetze von dem, was geschehen soll, ob es gleich
niemals geschieht, d. i. Objektiv-praktische Gesetze: da haben wir nicht nötig,
über die Gründe Untersuchung anzustellen, warum etwas gefällt oder
missfällt, wie das Vergnügen der bloßen Empfindung vom Geschmacke, und
ob dieser von einem allgemeinen Wohlgefallen der Vernunft unterschieden
sei; worauf Gefühl der Lust und Unlust beruhe, und wie hieraus Begierden
und Neigungen, aus diesen aber durch Mitwirkung der Vernunft Maximen
entspringen; denn das gehört alles zu einer empirischen Seelenlehre, welche
den zweiten Teil der Naturlehre ausmachen würde, wenn man sie als
Philosophie der Natur betrachtet, so fern sie auf empirischen Gesetzen
gegründet ist. Hier aber ist vom Objektiv-praktischen Gesetze die Rede,
mithin von dem Verhältnisse eines Willens zu sich selbst, so fern er sich bloß
durch Vernunft bestimmt, da denn alles, was aufs Empirische Beziehung hat,
von selbst wegfällt: weil, wenn die Vernunft für sich allein das Verhalten
bestimmt (wovon wir die Möglichkeit jetzt eben untersuchen wollen), sie
dieses notwendig a priori tun muss.
Der Wille wird als ein Vermögen gedacht, der Vorstellung gewisser Gesetze
gemäß sich selbst zum Handeln zu bestimmen. Und ein solches Vermögen
kann nur in vernünftigen Wesen anzutreffen sein. Nun ist das, was dem
Willen zum Objektiven Grunde seiner Selbstbestimmung dient, der Zweck,
und dieser, wenn er durch bloße Vernunft gegeben wird, muss für alle
vernünftige Wesen gleich gelten. Was dagegen bloß den Grund der
Möglichkeit der Handlung enthält, deren Wirkung Zweck ist, heißt das Mittel.
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Grundlegung zur Metaphysik der Sitten
- Title
- Grundlegung zur Metaphysik der Sitten
- Author
- Immanuel Kant
- Date
- 1785
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 70
- Keywords
- Philosophie, Vernunft, Aufklärung, Ethik, Kritik
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorrede 4
- Erster Abschnitt 9
- Zweiter Abschnitt 20
- Übergang von der populären sittlichen Weltweisheit zur Metaphysik der Sitten 20
- Die Autonomie des Willens als oberstes Prinzip der Sittlichkeit 48
- Die Heteronomie des Willens als der Quell aller unechten Prinzipien der Sittlichkeit 49
- Einteilung aller möglichen Prinzipien der Sittlichkeit aus dem angenommenen Grundbegriffe der Heteronomie 50
- Dritter Abschnitt 54
- Übergang von der Metaphysik der Sitten zur Kritik der reinen praktischen Vernunft. Der Begriff der Freiheit ist der Schlüssel zur Erklärung der Autonomie des Willens 54
- Freiheit muss als Eigenschaft des Willens aller vernünftigen Wesen vorausgesetzt werden 56
- Von dem Interesse, welches den Ideen der Sittlichkeit anhängt 57
- Wie ist ein kategorischer Imperativ möglich? 61
- Von der äußersten Grenze aller praktischen Philosophie 63
- Schlussanmerkung 70