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Wert bedingt, mithin zufällig wäre, so könnte für die Vernunft überall kein
oberstes praktisches Prinzip angetroffen werden.
Wenn es denn also ein oberstes praktisches Prinzip und in Ansehung des
menschlichen Willens einen kategorischen Imperativ geben soll, so muss es
ein solches sein, das aus der Vorstellung dessen, was notwendig für
jedermann Zweck ist, weil es Zweck an sich selbst ist, ein Objektives Prinzip
des Willens ausmacht, mithin zum allgemeinen praktischen Gesetz dienen
kann. Der Grund dieses Prinzips ist: die vernünftige Natur existiert als Zweck
an sich selbst. So stellt sich notwendig der Mensch sein eigenes Dasein vor;
so fern ist es also ein subjektives Prinzip menschlicher Handlungen. So stellt
sich aber auch jedes andere vernünftige Wesen sein Dasein zufolge eben
desselben Vernunftgrundes, der auch für mich gilt, vor; also ist es zugleich ein
Objektives Prinzip, woraus als einem obersten praktischen Grunde alle
Gesetze des Willens müssen abgeleitet werden können. Der praktische
Imperativ wird also folgender sein: Handle so, dass du die Menschheit sowohl
in deiner Person, als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als
Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst. Wir wollen sehen, ob sich dieses
bewerkstelligen lasse.
Um bei den vorigen Beispielen zu bleiben, so wird erstlich nach dem
Begriffe der notwendigen Pflicht gegen sich selbst derjenige, der mit
Selbstmorde umgeht, sich fragen, ob seine Handlung mit der Idee der
Menschheit als Zwecks an sich selbst zusammen bestehen könne. Wenn er,
um einem beschwerlichen Zustande zu entfliehen, sich selbst zerstört, so
bedient er sich einer Person bloß als eines Mittels zu Erhaltung eines
erträglichen Zustandes bis zu Ende des Lebens. Der Mensch aber ist keine
Sache, mithin nicht etwas, das bloß als Mittel gebraucht werden kann,
sondern muss bei allen seinen Handlungen jederzeit als Zweck an sich selbst
betrachtet werden. Also kann ich über den Menschen in meiner Person nichts
disponieren, ihn zu verstümmeln, zu verderben, oder zu töten. (Die nähere
Bestimmung dieses Grundsatzes zur Vermeidung alles Missverstandes, z. B.
der Amputation der Glieder, um mich zu erhalten, der Gefahr, der ich mein
Leben aussetze, um mein Leben zu erhalten etc., muss ich hier vorbeigehen;
sie gehört zur eigentlichen Moral.)
Zweitens, was die notwendige oder schuldige Pflicht gegen andere betrifft,
so wird der, so ein lügenhaftes Versprechen gegen andere zu tun im Sinne hat,
sofort einsehen, dass er sich eines andern Menschen bloß als Mittels bedienen
will, ohne dass dieser zugleich den Zweck in sich enthalte. Denn der, den ich
durch ein solches Versprechen zu meinen Absichten brauchen will, kann
unmöglich in meine Art, gegen ihn zu verfahren, einstimmen und also selbst
den Zweck dieser Handlung enthalten. Deutlicher fällt dieser Widerstreit
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Grundlegung zur Metaphysik der Sitten
- Title
- Grundlegung zur Metaphysik der Sitten
- Author
- Immanuel Kant
- Date
- 1785
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 70
- Keywords
- Philosophie, Vernunft, Aufklärung, Ethik, Kritik
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorrede 4
- Erster Abschnitt 9
- Zweiter Abschnitt 20
- Übergang von der populären sittlichen Weltweisheit zur Metaphysik der Sitten 20
- Die Autonomie des Willens als oberstes Prinzip der Sittlichkeit 48
- Die Heteronomie des Willens als der Quell aller unechten Prinzipien der Sittlichkeit 49
- Einteilung aller möglichen Prinzipien der Sittlichkeit aus dem angenommenen Grundbegriffe der Heteronomie 50
- Dritter Abschnitt 54
- Übergang von der Metaphysik der Sitten zur Kritik der reinen praktischen Vernunft. Der Begriff der Freiheit ist der Schlüssel zur Erklärung der Autonomie des Willens 54
- Freiheit muss als Eigenschaft des Willens aller vernünftigen Wesen vorausgesetzt werden 56
- Von dem Interesse, welches den Ideen der Sittlichkeit anhängt 57
- Wie ist ein kategorischer Imperativ möglich? 61
- Von der äußersten Grenze aller praktischen Philosophie 63
- Schlussanmerkung 70