Page - 51 - in Grundlegung zur Metaphysik der Sitten
Image of the Page - 51 -
Text of the Page - 51 -
Unter den rationalen oder Vernunftgründen der Sittlichkeit ist doch der
ontologische Begriff der Vollkommenheit (so leer, so unbestimmt, mithin
unbrauchbar er auch ist, um in dem unermesslichen Felde möglicher Realität
die für uns schickliche größte Summe auszufinden; so sehr er auch, um die
Realität, von der hier die Rede ist, spezifisch von jeder anderen zu
unterscheiden, einen unvermeidlichen Hang hat, sich im Zirkel zu drehen, und
die Sittlichkeit, die er erklären soll, insgeheim vorauszusetzen, nicht
vermeiden kann) dennoch besser als der theologische Begriff, sie von einem
göttlichen, allervollkommensten Willen abzuleiten, nicht bloß deswegen weil
wir seine Vollkommenheit doch nicht anschauen, sondern sie von unseren
Begriffen, unter denen der der Sittlichkeit der vornehmste ist, allein ableiten
können, sondern weil, wenn wir dieses nicht tun (wie es denn, wenn es
geschähe, ein grober Zirkel im Erklären sein würde), der uns noch übrige
Begriff seines Willens aus den Eigenschaften der Ehr- und Herrschbegierde,
mit den furchtbaren Vorstellungen der Macht und des Racheifers verbunden,
zu einem System der Sitten, welches der Moralität gerade entgegen gesetzt
wäre, die Grundlage machen müsste.
Wenn ich aber zwischen dem Begriff des moralischen Sinnes und dem der
Vollkommenheit überhaupt (die beide der Sittlichkeit wenigstens nicht
Abbruch tun, ob sie gleich dazu gar nichts taugen, sie als Grundlagen zu
unterstützen) wählen müsste: so würde ich mich für den letzteren bestimmen,
weil er, da er wenigstens die Entscheidung der Frage von der Sinnlichkeit ab
und an den Gerichtshof der reinen Vernunft zieht, ob er gleich auch hier
nichts entscheidet, dennoch die unbestimmte Idee (eines an sich guten
Willens) zur nähern Bestimmung unverfälscht aufbehält.
Übrigens glaube ich einer weitläufigen Widerlegung aller dieser
Lehrbegriffe überhoben sein zu können. Sie ist so leicht, sie ist von denen
selbst, deren Amt es erfordert, sich doch für eine dieser Theorien zu erklären
(weil Zuhörer den Aufschub des Urteils nicht wohl leiden mögen), selbst
vermutlich so wohl eingesehen, dass dadurch nur überflüssige Arbeit
geschehen würde. Was uns aber hier mehr interessiert, ist, zu wissen: dass
diese Prinzipien überall nichts als Heteronomie des Willens zum ersten
Grunde der Sittlichkeit aufstellen und eben darum notwendig ihres Zwecks
verfehlen müssen.
Allenthalben, wo ein Objekt des Willens zum Grunde gelegt werden muss,
um diesem die Regel vorzuschreiben, die ihn bestimme, da ist die Regel
nichts als Heteronomie; der Imperativ ist bedingt, nämlich: wenn oder weil
man dieses Objekt will, soll man so oder so handeln; mithin kann er niemals
moralisch, d. i. kategorisch, gebieten. Es mag nun das Objekt vermittelst der
Neigung, wie beim Prinzip der eigenen Glückseligkeit, oder vermittelst der
51
back to the
book Grundlegung zur Metaphysik der Sitten"
Grundlegung zur Metaphysik der Sitten
- Title
- Grundlegung zur Metaphysik der Sitten
- Author
- Immanuel Kant
- Date
- 1785
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 70
- Keywords
- Philosophie, Vernunft, Aufklärung, Ethik, Kritik
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorrede 4
- Erster Abschnitt 9
- Zweiter Abschnitt 20
- Übergang von der populären sittlichen Weltweisheit zur Metaphysik der Sitten 20
- Die Autonomie des Willens als oberstes Prinzip der Sittlichkeit 48
- Die Heteronomie des Willens als der Quell aller unechten Prinzipien der Sittlichkeit 49
- Einteilung aller möglichen Prinzipien der Sittlichkeit aus dem angenommenen Grundbegriffe der Heteronomie 50
- Dritter Abschnitt 54
- Übergang von der Metaphysik der Sitten zur Kritik der reinen praktischen Vernunft. Der Begriff der Freiheit ist der Schlüssel zur Erklärung der Autonomie des Willens 54
- Freiheit muss als Eigenschaft des Willens aller vernünftigen Wesen vorausgesetzt werden 56
- Von dem Interesse, welches den Ideen der Sittlichkeit anhängt 57
- Wie ist ein kategorischer Imperativ möglich? 61
- Von der äußersten Grenze aller praktischen Philosophie 63
- Schlussanmerkung 70