Page - 30 - in Tonka
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8Kapitel
Endlich verlor Tonka ihre Stellung; es hatte ihn fast schon beunruhigt, daß
dieses Unglück solang nicht gekommen war. Der Geschäftsmann, bei dem
Tonka diente, war ein kleiner, häßlicher Mensch, aber in ihrer Not war er
ihnen wie eine übermenschliche Macht erschienen. Wochenlang hatten sie
beratschlagt; er muß alles schon wissen, aber er ist doch ein anständiger Kerl,
der nicht eigens noch stößt, wenn eins im Unglück ist; dann wieder: er merkt
es nicht; Gott sei Dank, er hat es überhaupt noch nicht bemerkt! Aber eines
Tages wurde Tonka ins Kontor gerufen und rund heraus gefragt, wie es mit ihr
stünde. Sie brachte keine Antwort hervor, bloß die Tränen traten ihr in die
Augen. Und den vernünftigen Mann rührte es nicht, daß sie nicht sprechen
konnte; er zahlte ihr den Gehalt für einen Monat aus und entließ sie auf der
Stelle. So böse war er geworden, daß er donnerte, er sei jetzt verlegen um
einen Ersatz, und es sei Betrug von Tonka gewesen, ihren Zustand zu
verheimlichen, als sie die Stellung annahm; nicht einmal das Kontorfräulein
schickte er hinaus, als er ihr das sagte. Tonka kam sich danach sehr schlecht
vor, aber auch er bewunderte heimlich diesen schäbigen, kleinen, namenlosen
Kaufmann, der nicht eine Minute lang geschwankt hatte, seinem
Geschäftswillen Tonka zu opfern, und mit ihr ihre Tränen, ein Kind und weiß
Gott welche Erfindungen, welche Seelen, welches Menschenschicksal, denn
das alles wußte er ja nicht und fragte nicht danach.
Sie mußten jetzt in kleinen Speisewirtschaften essen, für wenige Pfennige
zwischen Schmutz und Grobheit eine Kost, die er nicht vertrug. Er holte
Tonka zu diesen Mahlzeiten ab, pünktlich, in Erfüllung einer Pflicht. Er
machte eine sonderbare Figur in seinen vornehmen Kleidern zwischen den
Gehilfen und Geschäftsdienern, ernst, schweigsam, treu zur Seite seiner
schwangeren Gefährtin und unzertrennlich. Viele spöttische Blicke flogen
ihm zu, und manche anerkennende, die nicht weniger brannten. Es war ein
seltsames Wandeln, mit seiner Erfindung im Kopf und der Überzeugung von
Tonkas Untreue, zwischen dem groben Menschenschotter der Großstadt. Er
hatte noch nie so stark wie jetzt die Gemeinbürgschaft der Welt empfunden;
wo er nur über Straßen ging, jagte und jappte es wie eine Meute lärmender
Hunde; jeder voll Einzelgier, aber doch alle ein Rudel, und bloß er hatte
keinen, den er um Unterstützung bitten oder dem er auch nur sein Schicksal
hätte erzählen können; er hatte nie Zeit für Freunde gehabt, wohl auch keinen
Geschmack an ihnen oder keinen Reiz für sie: er war belastet von seinen
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Tonka
- Title
- Tonka
- Author
- Robert Musil
- Date
- 1922
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.8 cm
- Pages
- 46
- Categories
- Weiteres Belletristik