Page - 25 - in Tonka
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6Kapitel
Denn am Morgen eines einzigen Tages war alles in ein Dornengerank
verwandelt worden.
Es waren schon einige Jahre vergangen, seit sie gemeinsam lebten, als
Tonka sich eines Tages schwanger fühlte, aber es war nicht ein beliebiger Tag,
sondern der Himmel hatte dafür einen Tag ausgesucht, von dem
zurückgerechnet die Empfängnis eigentlich in eine Zeit der Abwesenheit und
Reisen fiel, und Tonka wollte ihren Zustand erst bemerkt haben, als sein
Beginn schon nicht mehr so genau festzustellen war.
In solcher Lage gibt es Gedanken, die jedem durch den Kopf fliegen; weit
und breit war jedoch kein Mann, der ernsthaft hätte in Zusammenhang
gebracht werden können.
Einige Wochen später trat das Schicksal noch deutlicher auf: Tonka
erkrankte. Es war eine Krankheit, die entweder vom Kind ins Blut der Mutter
getragen wird oder ohne diesen Umweg vom Vater; es war eine entsetzliche,
schwere, schleichende Krankheit, aber ob sie den näheren oder weiteren Weg
genommen hatte, das Merkwürdige war: die erforderliche Zeit stimmte in
beiden Fällen nicht genau. Auch war er ja nach menschlichem Ermessen nicht
krank, und es verstrickte ihn also entweder ein mystischer Vorgang mit Tonka
oder sie hatte gemeine irdische Schuld auf sich geladen. Es gab freilich auch
andere natürliche Möglichkeiten – theoretische, platonische, wie man sagt –,
aber praktisch war ihre Wahrscheinlichkeit so gut wie Null; praktisch war die
Wahrscheinlichkeit, daß er weder der Vater von Tonkas Kind noch der
Urheber ihrer Krankheit war, gleich der Gewißheit.
Man verweile einen Augenblick, um zu verstehen, wie schwer er es begriff.
Praktisch! Kommst du zu einem Kaufmann und eröffnest nicht eine Aussicht,
die bald seine Begehrlichkeit reizt, sondern hältst ihm eine lange Rede über
die Zeiten und das, was ein reicher Mann eigentlich tun müßte, so weiß er, du
bist gekommen, um ihm sein Geld zu stehlen. Er wird sich nie irren darin,
obgleich du ja auch gekommen sein könntest, um ihm Belehrung zu
schenken. Ebenso ist ein Richter nicht einen Augenblick im Zweifel, wenn
ihm der Angeklagte erzählt, daß er das bei ihm gefundene Beweisstück von
einem »unbekannten Mann« erhalten habe. Und doch wäre einmal ja auch das
möglich. Aber Handel und Wandel ruhen darauf, daß man nicht mit allen
Möglichkeiten zu rechnen braucht, weil die äußersten praktisch nicht
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book Tonka"
Tonka
- Title
- Tonka
- Author
- Robert Musil
- Date
- 1922
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.8 cm
- Pages
- 46
- Categories
- Weiteres Belletristik