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Kapitel
Etwas Ungreifbares fehlte, um die Überzeugung zur Überzeugung zu machen.
Er war einmal nachts mit der Mutter und Hyazinth gereist, und so um zwei
Uhr, in der rücksichtslosen Müdigkeit, wenn die Körper im Eisenbahnzug
schwanken und nach Unterstützung suchen, schien es ihm, daß seine Mutter
sich an Hyazinth lehnte, voll Einverständnis, und Hyazinth faßte ihre Hand.
Seine Augen waren weit geworden vom Zorn damals, denn sein Vater tat ihm
leid; aber als er sich vorbeugte, saß Hyazinth allein und seine Mutter hatte
den Kopf zu der von ihm abgewandten Seite geneigt. Und nach einer Weile,
als er sich wieder zurückgelehnt hatte, wiederholte sich das Ganze. So groß
war die durch das ungenaue Sehen hervorgerufene Qual oder so ungenau
durch die Qual in der Dunkelheit das Sehen. Er sagte sich schließlich, daß er
nun doch überzeugt sei, und nahm sich vor, seine Mutter am Morgen zur Rede
zu stellen; aber als der Tag schien, war das verflogen wie die Dunkelheit. Und
ein anderes Mal war die Mutter auf einer Reise unwohl geworden, und
Hyazinth, der an ihrer Statt dem Vater schreiben mußte, fragte unlustig: was
soll ich denn schreiben? – er, welcher der Mutter bogenlange Episteln bei
jeder Trennung schrieb! –: da gab es Zank, denn der Junge war wieder böse
geworden, das Unwohlsein seiner Mutter verschlimmerte sich, schien
gefährlich zu werden, man mußte helfen, Hyazinths Hände kreuzten dabei
immerzu die Wege der seinen, und immerzu stieß er sie weg. Solange, bis
Hyazinth fast traurig fragte: »Warum stößt du mich denn fortwährend weg?«
Da war er über den Ton des Unglücks in dieser Stimme erschrocken. So
wenig weiß man, was man weiß, und will man, was man will.
Das kann man begreifen; jedoch er vermochte in seinem Zimmer zu sitzen,
von Eifersucht gequält zu sein und sich zu sagen, daß er gar nicht eifersüchtig
war, sondern etwas anderes, Entlegenes, merkwürdig Erfundenes; er, dessen
eigene Gefühle das waren. Wenn er aufsah, fehlte nichts. Die Tapete des
Zimmers war grün und grau. Die Türen waren rötlich braun und voll still
spiegelnder Lichter. Die Angeln der Türen waren dunkel und aus Kupfer. Ein
weinroter Samtstuhl stand im Zimmer und hatte eine braune
Mahagonirahmung. Aber alle diese Dinge hatten etwas Schiefes,
Vornübergeneigtes, fast Fallendes in ihrer Aufrechtheit, sie erschienen ihm
unendlich und sinnlos. Er drückte seine Augen, sah umher, aber es waren
nicht die Augen. Es waren die Dinge. Von ihnen galt, daß der Glaube an sie
früher da sein mußte als sie selbst; wenn man die Welt nicht mit den Augen
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Tonka
- Title
- Tonka
- Author
- Robert Musil
- Date
- 1922
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.8 cm
- Pages
- 46
- Categories
- Weiteres Belletristik