Page - 23 - in Vertragsrecht in der Coronakrise
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auf nicht grob unverhältnismäßig. Dass der Leistungsaufwand erheblich
mehr als den vereinbarten Kaufpreis von 100 € beträgt, ist für die Anwen-
dung des §275 Abs.2 BGB unerheblich. Es kann allenfalls ein Wegfall der
Geschäftsgrundlage gem. §313 Abs.1 BGB vorliegen (Fallgruppe der Äqui-
valenzstörung), der zu einem Anspruch auf Vertragsanpassung und ggfs.
zu einem Rücktrittsrecht der belasteten Partei (hier: des Verkäufers) füh-
ren kann.28
Fälle des §275 Abs.2 BGB werden daher allenfalls vorliegen, wenn Um-
stände spezifisch beim Verkäufer eintreten und dessen Kosten erhöhen,
ohne dass zugleich der Marktpreis steigt. Das mag fĂĽr einen Produzenten
gelten, der durch höhere Hygieneanforderungen oder wegen Personal-
mangels seine Produktion drosseln muss, sodass seine StĂĽckkosten steigen,
während der Marktpreis für das Produkt konstant bleibt, weil Wettbewer-
ber die gleiche Ware weiterhin zum bisherigen Preis anbieten. Andere
denkbare Fälle sind solche, bei denen das Leistungsinteresse des Gläubi-
gers infolge der Covid-19-Pandemie sogar sinkt, weil er selbst fĂĽr die be-
stellte Ware keine Verwendung mehr hat.29 Hier ist eine Leistungsbefrei-
ung aufgrund der Einrede aus §275 Abs.2 BGB denkbar, wenn der Auf-
wand des Produzenten in Relation zum Leistungsinteresse des Abnehmers
– also faktisch zum Marktpreis oder einem ggfs. gesunkenen Interesse –
unverhältnismäßig groß wird. Wo diese Schwelle genau liegt, ist einzelfall-
abhängig und schwer allgemein zu bestimmen.30 Zu berücksichtigen ist
dabei insbesondere, ob der Käufer die Ware anderweitig am Markt erhal-
ten kann, also nicht auf die Erfüllung durch diesen konkreten Verkäufer
angewiesen ist. FĂĽr nicht zu vertretende Leistungserschwerungen, wie sie
im Rahmen der Covid-19-Pandemie regelmäßig vorliegen dürften, wird
man annehmen können, dass der Verkäufer – wenn die Ware anderweitig
verfügbar ist – nur wenig mehr als den Marktpreis, den der Käufer bei
Dritten bezahlen müsste, aufwenden muss (etwa 5-10%). Ist der Käufer da-
gegen auf die Lieferung des Verkäufers angewiesen, wird man die Schwelle
höher ansetzen müssen, z.B. bei einer Überschreitung des Leistungsinteres-
ses um 10-20%.31
28 S. Weller/Lieberknecht/Habrich, Virulente Leistungsstörungen (Fn.1), S.1021f.
m.w.N. sowie PrĂĽtting, in diesem Band.
29 Weller/Lieberknecht/Habrich, Virulente Leistungsstörungen (Fn.1), S.1020.
30 Für Anhaltspunkte s. Riehm (Fn.20), §275 Rn.213ff.; für konkrete Zahlen I.
Bach, Leistungshindernisse, 2017, S.428ff.
31 Ähnlich Ernst (Fn.26), §275 Rn.107ff. (ohne konkrete Zahlen); abweichende
Zahlenverhältnisse (allein in Abhängigkeit vom Verschuldensgrad) bei F. Faust,
in: P. Huber/F. Faust (Hrsg.), Schuldrechtsmodernisierung, 2002, Kap. 2 Rn.68.
Corona und das Allgemeine Leistungsstörungsrecht
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https://doi.org/10.5771/9783748909279, am 02.10.2020, 12:06:58
Open Access - - https://www.nomos-elibrary.de/agb
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book Vertragsrecht in der Coronakrise"
Vertragsrecht in der Coronakrise
- Title
- Vertragsrecht in der Coronakrise
- Author
- Daniel Effer-Uhe
- Editor
- Alica Mohnert
- Location
- Baden-Baden
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-7489-0927-9
- Size
- 15.3 x 22.7 cm
- Pages
- 258
- Categories
- Coronavirus
- Recht und Politik
Table of contents
- Corona und das Allgemeine Leistungsstörungsrecht 11
- Wegfall der Geschäftsgrundlage als Antwort des Zivilrechts auf krisenbedingte Vertragsstörungen? - Systemerwägungen zu §313 BGB und sachgerechter Einsatz in der Praxis - 47
- Verbraucher- und Gläubigerrechte in der Corona-Krise –Ausweitung oder Einschränkung? 73
- Die vertragsrechtlichen Regelungen in Art.240 EGBGB: Voraussetzungen, Rechtsfolgen, offene Fragen 95
- Niemand zahlt mehr Miete!? ‑ Die Corona-Krise und ihre Auswirkungen auf die Pflicht zur Mietzahlung 147
- Aktuelle Probleme im Reiserecht durch die Corona-Krise 175
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- Das Arbeitsvertragsrecht in der Coronakrise 223
- Vertragsrecht in der Corona-KriseCOVInsAG: Auswirkungen auf die Insolvenzantragspflicht und die Haftung der Organe 245